In der Schweiz leiden etwa 1,5 Millionen Menschen unter chronischen Schmerzen – oft ohne sichtbare Ursache. Schmerzspezialist Hardy Hüttemann erklärt, welche Rolle das Gehirn dabei spielt und was wirklich hilft.
Jeder hat eine individuelle Schmerzschwelle.
Unser Körper nimmt Reize über Nervenendigungen, also die Enden von Nervenfasern, auf und leitet sie an das Gehirn weiter. Dort wird entschieden, ob ein Reiz als angenehm, neutral, unangenehm oder schmerzhaft empfunden wird. Nicht jeder Mensch empfindet die Reize gleich – jeder hat eine individuelle Schmerzschwelle. Doch selbst bei ein und derselben Person kann sich die Wahrnehmung von Schmerz verändern, je nach Alter oder emotionaler Verfassung.
Schmerz ist evolutionär wichtig für unser Überleben. Er warnt uns vor körperlichen Gefahren, etwa wenn wir uns schneiden oder bei einem Infekt.
Ja, in der Medizin unterscheiden wir verschiedene Schmerzformen. Am grundlegendsten ist die Einteilung in akuten und chronischen Schmerz, auch neuroplastischer Schmerz genannt.
Akuter Schmerz hat eine klar erkennbare Ursache, etwa einen Knochenbruch. Neuroplastischer Schmerz entsteht, wenn das Gehirn sich an die Schmerzweiterleitung gewöhnt. Selbst wenn die ursprüngliche Verletzung verheilt ist, bleibt das Schmerzempfinden bestehen, weil das Gehirn weiter Schmerz «erwartet».
Nicht unbedingt. Auch akute Schmerzen – etwa bei Bandscheibenschäden – können über Monate bestehen, ohne dass sie chronisch werden. Umgekehrt kann Schmerz auch sehr schnell chronisch werden, selbst wenn kein körperlicher Befund mehr vorliegt.
Der Mythos, dass chronischer Schmerz immer zu psychischen Erkrankungen führt, gilt heute als überholt.
Das hängt stark von der Persönlichkeit des Patienten und seinem sozialen Umfeld ab. Der Mythos, dass chronischer Schmerz immer zu psychischen Erkrankungen führt, gilt heute als überholt. Allerdings können sich chronische Schmerzen und Depression gegenseitig negativ beeinflussen.
Zunächst ist es wichtig, ernsthafte Erkrankungen auszuschliessen, damit sich der Patient auf die weiteren Schritte einlassen und nach vorne schauen kann. Dann erarbeiten wir Therapieoptionen und gemeinsame Strategien, wie schmerzbedingte Einschränkungen im Alltag und im Beruf reduziert oder vermieden werden können.
Man kann den Arbeitsplatz zum Beispiel so gestalten, dass durch wechselnde Tätigkeiten langes Sitzen vermieden wird. Auch kurze Dehn- oder Bewegungseinheiten, die am Arbeitsplatz ausgeführt werden, sind sinnvoll. Eine andere Massnahme wäre, dass der Arbeitgeber Änderungen beim Jobprofil vornimmt und man mehr im Büro statt auf Montage arbeiten kann.
Akute und tumorbedingte Schmerzen können wir heute gut behandeln. Bei chronischem Schmerz ist das schwieriger. Selbst Opiate helfen hier nur bedingt und können sogar die Schmerzempfindlichkeit erhöhen. Medikamentös kommen hier Psychopharmaka zum Einsatz, welche die Stoffwechselvorgänge im Gehirn beeinflussen, idealerweise in Kombination mit einer psychologischen Begleitbehandlung. Wichtig ist zudem körperliche Aktivität: Bewegung regt Botenstoffe an, die Schmerzen lindern, und sportliche Aktivität in der Natur wirkt zusätzlich stimmungsaufhellend.
Schmerz ist nicht immer mess- oder sichtbar – nicht auf einem Röntgenbild, nicht im MRT.
Sie können lernen, mit dem Schmerz zu leben und diesen in gewissem Masse auch zu akzeptieren, indem sie sogenannte Coping-Strategien entwickeln. Dazu gehören Kurzinterventionen wie fokussierte Atmung, das bewusste Anspannen und Dehnen schmerzender Muskeln oder entspannende Gedankenreisen. Zudem hilft es herauszufinden, was Erleichterung bringt, zum Beispiel liegen, kurze Ruhepausen oder leichte Aktivität. Auch Entspannungsmethoden wie Meditation, Muskelrelaxation nach Jacobson oder Feldenkrais helfen vielen. Erfolgserlebnisse stärken die Zuversicht – aber dafür muss man manchmal seine Ansprüche anpassen.
Sehr wichtig. Manche Menschen blockieren sich, weil sie unbedingt eine Diagnose finden wollen. Das ist verständlich, aber manchmal kontraproduktiv. Schmerz ist nicht immer mess- oder sichtbar – nicht auf einem Röntgenbild, nicht im MRT. Ich sage meinen Patienten immer: «Ich behandle die Schmerzen, die Sie mir beschreiben.» Denn auch wenn man sie nicht sieht, sind sie für die Patienten real.