Was bedeutet der Distanzzwang für unsere Freundschaften? Psychiater Thomas Ihde spricht über intensive Telefonate, Beziehungen im Frühstadium und über die Gründe, warum man sich jetzt einen Brief schreiben sollte.
Für manche Familien ist es schön, mehr Zeit gemeinsam zu verbringen. Anderen wird die Enge des Wohnraums bewusst. Arbeit und lernende Kinder unter einen Hut zu bringen, ist erschöpfend. Viele schmerzt die Trennung von den Grosseltern. Die körperliche Distanz macht vor allem allein lebenden Menschen zu schaffen. Unser Bedürfnis nach Berührungen – und seien sie noch so flüchtig – können auch moderne Kommunikationsmittel nicht auffangen.
Unser Beziehungsnetz besteht aus einer Vielfalt an Leuten, die sehr unterschiedliche Facetten unserer Persönlichkeit abdecken. Mit manchen führen wir tiefe Gespräche, mit anderen gehen wir zum Fussballmatch. Zurzeit sind viele verunsichert und suchen eher tiefe Gespräche. Ich selbst habe öfter Kontakt mit Familienmitgliedern, fühle mich mit ihnen stärker verbunden; mit meinem Bruder führe ich sonst nicht so intensive Telefonate.
Momentan mag diese Beziehung vielleicht eine Pause einlegen. Wenn wir wieder rausdürfen, intensiviert sich der Kontakt wieder von selbst. Darauf können wir uns freuen.
Die neuen Regeln verunsichern: Wie viel Nähe darf ich zulassen? Auf diversen Partnerplattformen ist jetzt wenig los – es ist nicht die Zeit, um neue Kontakte aufzubauen. In Beziehungen, die sich in der Anfangsphase befinden, kommt es schneller zu Nähe und Intimität – oder zur Trennung. Manche Beziehungen im Frühstadium, die nun zerbrechen, hätten in normalen Zeiten vielleicht Bestand gehabt; sie scheitern jetzt am zu frühzeitigen Bedürfnis nach Verbindlichkeit. Es gibt gerade keinen Raum, in dem spontan etwas entstehen kann.
Nach den ersten Wochen, in denen wir pausenlos Nachrichten verfolgt haben und das Familienleben sehr intensiv war, tritt nun eine Phase der ersten Sättigung und der Routinen ein. Jetzt ist es wichtig, sich in Gesprächen Zeit für andere Themen zu nehmen, bewusst gegenzusteuern. Man kann etwa die Freundin fragen: «Welches Buch liest du gerade?» (Lesen Sie unten weiter ...)
Stimmt. Allerdings sollte man in sich hineinhören: Mit manchen tut ein Austausch gut. Bei anderen fühlen wir uns gestresst – solche Gespräche sollten wir lassen.
Daran lässt sich leider nichts ändern. Jetzt zeigt sich, was wirklich wichtig ist im Leben – das ist auch eine Chance. Wenn die Krise vorbei ist, werden wir Beziehungen anders führen – jedenfalls in den ersten Wochen. Schreiben wir doch nun alle einen Brief an uns selber: «Was ich aus der Coronakrise für mein Leben mitnehme.» Den kann man bei jedem Geburtstag wieder hervorholen.