Sie sollen beim Entspannen und Einschlafen helfen: Videos, in denen Menschen eine Perücke kämmen oder mit Fingerspitzen auf Cremetiegel trommeln. Das Phänomen ist als ASMR bekannt.
Es gibt unzählige Wege, um zur Ruhe zu kommen: Vor dem Schlafengehen eine Honigmilch trinken, das Handy weglegen, Meeresrauschen lauschen oder tief ein- und ausatmen. Vor einiger Zeit ist eine weitere Entspannungsmethode dazugekommen, die wohl erst einmal eigenartig anmutet: Videos im Internet, in denen Menschen eine halbe Stunde lang die Haare einer Perücke kämmen oder hochkonzentriert Frotteehandtücher und Papierkraniche falten. Gemeinsam ist diesen Clips, dass sie bei vielen Menschen ein entspannendes Kribbeln im Körper auslösen. Der Trend ist als ASMR bekannt (siehe auch Box).
Die Wissenschaft hat dem Phänomen bisher wenig Beachtung geschenkt – trotz der grossen Fangemeinde im Netz. Es gibt bis heute nur gerade eine Handvoll Studien dazu. Mit ein Grund dürfte der Name sein: Der Versuch seiner Anhänger, dem Gefühl mit der umständlichen Bezeichnung Autonomous Sensory Meridian Response (ASMR) ein Siegel der Wissenschaftlichkeit aufzudrücken, sorgte in Forscherkreisen eher für Skepsis als Interesse. «Das Gefühl selbst ist deswegen aber nicht weniger real», verteidigt die Psychologin Giulia Poerio das Phänomen. Die Wissenschaftlerin aus England hat 2018 an der Universität Sheffield als Erste untersucht, ob sich die subjektiv empfundene beruhigende und stimmungsaufhellende Wirkung der ASMR-Clips auch physiologisch nachweisen lässt.
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Und tatsächlich: Beim Betrachten entsprechender Videos sank die Herzfrequenz derjenigen Versuchspersonen, die von sich sagten, dass sie für ASMR empfänglich seien. Das Kribbeln scheint sie etwa gleich gut zu entspannen wie es sanfte Musik tut. Gleichzeitig stellten Poerio und ihr Forschungsteam eine Zunahme der elektrischen Leitfähigkeit der Haut fest, indem die Haut der Versuchspersonen stärker durchblutet wurde und sie leicht ins Schwitzen kamen. Ein Hinweis auf emotionale Erregung
Solche auf den ersten Blick widersprüchlichen Gefühlsreaktionen seien alles andere als selten, erklärt Poerio, die heute an der Universität Essex lehrt und forscht. Man denke nur an Situationen, in denen Menschen aus Freude weinen oder an eigentlich paradoxe Liebesbekundungen wie «Ich hab dich zum Fressen gern». Die Erkundung komplexer Emotionen ist denn auch ein zentrales Forschungsinteresse der Psychologin.
ASMR kann also zum persönlichen Wohlbefinden beitragen. «Es wäre jedoch gefährlich, direkt und ungeprüft von therapeutischem Nutzen zu sprechen», sagt der Wahrnehmungspsychologe Claus-Christian Carbon von der Universität Bamberg. Carbon dürfte einer der wenigen, wenn nicht der einzige Wissenschaftler im deutschsprachigen Raum sein, der sich ebenfalls mit dem Phänomen befasst. Er warnt vor Selbsttherapien mit ASMR bei ernsthaften Beschwerden wie Depressionen, Angststörungen oder chronischen Schmerzen. Gerade weil ein solches Risiko bestehe, sei es wichtig, dass sich die seriöse Forschung des Themas annehme – und nicht pseudowissenschaftlichen Theorien das Feld überlassen werde.