Sie stehen ungern im Mittelpunkt und bleiben oft hinter ihren beruflichen Möglichkeiten zurück. Die Berliner Psychologieprofessorin Lydia Fehm erklärt, wie schüchterne Personen ticken und was ihnen hilft.
Lydia Fehm: Schüchtern nicht, aber ich bin manchmal etwas eingeschüchtert, etwa bei beruflichen Herausforderungen. Jüngst habe ich ein neues Lehrformat ausprobiert und war unsicher, wie die Studenten es aufnehmen. Schüchternheit bedeutet aber etwas anderes.
Ein stabiles Persönlichkeitsmerkmal oder Temperament, das andauernd oder immer wieder zum Tragen kommt. Schüchterne Menschen sind im Umgang mit anderen Menschen angespannt, sie empfinden Unbehagen und Angst.
Bei einigen tritt die Schüchternheit nur in einem ausgewählten System auf, zum Beispiel im Umgang mit dem Geschlecht, für das sich die Person interessiert. Oft meiden schüchterne Personen grössere Gruppen und stehen ungern im Mittelpunkt. Sie grübeln darüber nach, was alles schiefgehen könnte – aus Angst, sich zu blamieren. Ihr Selbstvertrauen ist reduziert. Gesellschaftliche Anlässe oder Smalltalks können daher einen Fluchtimpuls auslösen.
Das sind soziale Ängste, sie sind grundsätzlich wichtig für das Funktionieren einer Gesellschaft. Sie regeln, was erlaubt und was verboten ist. Bei schüchternen Personen sind das Normbewusstsein und die Angst vor Überschreitungen besonders stark ausgeprägt. Sie «übererfüllen» die Norm.
Das lässt sich schwer beziffern, weil Schüchternheit eine subjektive Erfahrung ist, über die nur die schüchterne Person selbst Auskunft geben kann. Schätzungsweise haben fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung dieses Persönlichkeitsmerkmal.
Introvertierte sind gern allein, weil sie den Austausch mit anderen Menschen als anstrengend erleben. Ihr Rückzug ist nicht angstgetrieben wie bei schüchternen Menschen, sondern beruht auf dem Wunsch, ungesellig zu sein.
Es gibt eine hohe genetische Komponente. Schon Kleinkinder können eine Verhaltenshemmung zeigen: eine Zurückhaltung beim Erkunden neuer Orte, ein stärkeres Klammern an der Mutter, ein geringeres Interesse an neuen Gesichtern. Aber der erbliche Anteil ist schwer vom sozial erlernten Verhalten zu trennen.
Weil die Eltern ein Modell vorleben, das die kindliche Entwicklung stark beeinflusst. Schüchterne Eltern verbringen die Wochenenden womöglich oft zu Hause, sind nicht in Vereinen aktiv, senken die Stimme, wenn sie mit Fremden sprechen, oder wickeln den Paketboten an der Tür immer schnell ab. Dieses Verhalten ahmen die Kinder nach.
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Wenn man sich ständig selbst im Weg steht. Die Erfahrung zeigt beispielsweise, dass schüchterne Personen oft unter ihrem Qualifikationsniveau bleiben, weil sie Angst haben, sich zu stark zu exponieren. Daraus kann ein Leidensdruck entstehen.
Es geht nicht darum, den schüchternen Persönlichkeitsanteil loszuwerden, sondern die negativen Auswirkungen zu minimieren. Menschliches Verhalten ist enorm wandlungsfähig. Durch einen anderen Umgang mit den eigenen Emotionen und Gedanken lässt sich die Kontrolle über das eigene Leben zurückgewinnen. Dies braucht aber Zeit. Zudem reden wir von graduellen Veränderungen. Ein schüchterner Mensch wird nicht in zehn Jahren zur Rampensau.
Bei Mädchen wurde Zurückhaltung lange Zeit als wünschenswertes Verhalten angesehen. Auch wenn sich das Rollenverständnis zum Glück gewandelt hat, ist weibliche Schüchternheit immer noch gesellschaftlich akzeptierter als männliche. Jungs wird schneller rückgemeldet, dass schüchternes Verhalten unangemessen ist. Insofern haben sie es schwerer.
Diesen Eindruck habe ich nicht. Letztlich ist es nur eine Minderheit der Userinnen und User, die sich in den sozialen Netzen profilieren und vermarkten. Viele schüchterne Personen empfinden Whatsapp, Tiktok oder Instagram sogar als entlastend, weil sie nicht in Echtzeit kommunizieren müssen, sondern zeitverzögert reagieren können.
Darauf kann ich nur als Mutter antworten, weil ich keine Kinder- und Jugendpsychologin bin. Ich würde mein Kind ermuntern, dem Impuls zum Rückzug nicht immer nachzugeben. Traut es sich auf dem Spielplatz nicht, mit anderen Kindern zu spielen, würde ich ihm gut zureden und diesen Ort regelmässig aufsuchen. Mit einer Mischung aus Gelassenheit und Ermunterung helfe ich meinem Kind am ehesten weiter.
Von vielen werden schüchterne Menschen als sympathisch empfunden, weil sie anderen den Vortritt lassen und tendenziell erst einmal zuhören. Wollten alle im Mittelpunkt stehen, gäbe es ein schönes Gedrängel (lacht). Schüchternheit macht Menschen zwar nicht automatisch zu besseren Zuhörern, aber die Fähigkeit, sich zurückzunehmen, schafft gute Voraussetzungen dafür.