Tipps für eine gesunde Ernährung sind allgegenwärtig. Vanessa Mamié nahm es so genau damit, dass das Thema ihr ganzes Leben bestimmte: Sie kippte in eine Orthorexie.
«Mit 15 hat es angefangen. Ich hatte mich gerade von der ersten grossen Liebe getrennt. Damals war ich ein wenig mollig, aber nicht übergewichtig. Um mich wieder wohler und fitter zu fühlen und meine Chancen auf dem Single-Markt zu verbessern, nahm ich mir vor, ein wenig abzunehmen und vermehrt auf gesunde Ernährung zu achten. Von da an ass ich vor allem Gemüse und Salat und ging regelmässig ins Fitness-Studio. So konnte ich mein Gewicht von 68 auf 60 Kilogramm reduzieren.
Die ersten Feedbacks waren positiv. ‹Du siehst super aus›, bekam ich von Freundinnen zu hören. Dies motivierte mich. Ich las mehrere Bücher über Ernährung und liess immer mehr Lebensmittel weg, die als ungesund gelten, vor allem Zucker, aber auch Würste, ungesunde Fette und Fast Food. Ich fürchtete mich so sehr vor diesen Zutaten, dass ich bei allen Produkten vor dem Kauf die Inhaltsangaben genau studierte. Manchmal verbrachte ich bis zu zwei Stunden im Laden. Etwas später sprang ich zudem auf den Low-Carb-Trend auf und verzichtete weitgehend auf Kohlenhydrate.
Mein Vater richtete sich beim Kochen ein Stück weit nach meinen Vorgaben, doch trotzdem ass ich vieles nicht, was er auftischte. Wenn ich eingeladen war, fragte ich genau nach dem Menü, und wenn es mir zu wenig gesund war, brachte ich mein Essen selber mit oder sagte ab. Im Restaurant zu essen, war für mich fast nicht mehr möglich.
Meine Familie begann sich allmählich Sorgen zu machen. Tatsächlich ging es mir nicht gut. Das Thema war zu einem Zwang geworden. Es beschäftigte mich fast pausenlos und bestimmte mein ganzes Leben. Ich zählte die Kalorien und gestand mir bald nur noch 1000 Kalorien pro Tag zu. Dies, obwohl ich täglich mehrere Stunden Sport trieb, sogar wenn ich krank war.
Als ich 18 war, wog ich nur noch 43 Kilogramm. Ich fühlte mich schwach und innerlich leer. Ich hatte häufig Kopf- und Bauchschmerzen, die Menstruation blieb weg, die Haare fielen mir aus und die Fingernägel wurden brüchig. Ich war an einem Tiefpunkt angelangt und merkte endlich, dass ich etwas ändern musste.
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So suchte ich Hilfe bei einer Psychologin. Ein Teil der Therapie bestand daraus, dass ich jede Woche etwas essen musste, vor dem ich mich ekelte. Es brauchte grosse Überwindung, mal wieder in einen so richtig fettigen Hamburger zu beissen. Je mehr ich merkte, dass nichts Schlimmes passierte, desto mehr schöpfte ich Vertrauen. Weil ich nicht mehr kiloweise Gemüse ass, hatte ich auch bald nicht mehr so einen geblähten Bauch.
Zudem setzte ich mich mit den Hintergründen meines extremen Ess- und Sportverhaltens auseinander. Ich glaube, dass es mit einem starken Kontrollbedürfnis zu tun hatte. Von klein auf wurde ich stark auf Leistung getrimmt. Ich hatte das Gefühl, nur etwas wert zu sein, wenn ich alles perfekt mache. In einem langen Prozess lernte ich, liebevoller mit mir selbst umzugehen. Etwa, indem ich mir hin und wieder einen Wellness-Abend oder eine Massage gönne oder mich mit Dingen beschäftige, die mir Freude machen, zum Beispiel Puzzeln.
Unterdessen habe ich ein Studium im Fach Ernährungspsychologie begonnen. Dabei geht es um die psychische Komponente des Essverhaltens – zum Beispiel, wieso es vielen Menschen nicht gelingt, Gewicht zu verlieren. Ich kann mir gut vorstellen, später in der Beratung tätig zu werden. Doch vorerst hilft mit die Ausbildung vor allem bei der Auseinandersetzung mit meinen eigenen Gewohnheiten.
Ich bin immer noch ein sehr aktiver Mensch und treibe viel Sport. Doch es geht mir nicht mehr so stark um Leistung, sondern vor allem um Genuss und das Naturerlebnis. Statt Fitness und Bodybuilding zu betreiben, gehe ich heute viel lieber wandern, joggen oder Velo fahren.
Auch eine gesunde Ernährung ist mir weiterhin wichtig. Meist esse ich vegetarisch. Wenn ich Fleisch kaufe, achte ich darauf, dass es aus Schweizer Bio-Produktion stammt. Ich orientiere mich mittlerweile aber viel stärker danach, worauf ich Lust habe. Früher habe ich das gar nicht mehr wahrgenommen. Und wenn mir danach ist, gehe ich auch mal einen Hamburger mit Pommes essen.»
Fastfood und Fertigprodukte liegen im Trend. Weite Kreise der Bevölkerung sind übergewichtig, weil sie zu viel Fett und Zucker sowie kaum frisches Gemüse essen. Eine Minderheit hat jedoch mit dem gegenteiligen Problem zu kämpfen: Bei der sogenannten Orthorexie handelt es sich um eine Form von Essstörung mit übertriebener Fixierung auf gesunde Ernährung. Betroffene – oft sind es junge Frauen, zunehmend aber auch Männer – beschäftigen sich intensiv mit speziellen Ernährungslehren und wenden viel Zeit und Energie auf, diese zu befolgen. Der Stellenwert dieses Themas wird so gross, dass er das Leben immer mehr bestimmt. «Viele schöpfen ihre Selbstwert daraus, dass sie es schaffen, sich gesund oder umweltverträglich zu ernähren», beobachtet Sarah Stidwill, Psychologin und Ernährungsberaterin bei der Arbeitsgemeinschaft Ess-Störungen AES. «Wenn sie ihre selbst gesetzten Regeln missachten, stellt sich ein schlechtes Gewissen ein.»
Der Begriff Orthorexia nervosa setzt sich aus den griechischen Wörtern orthos (richtig) und orexie (Appetit, Ernährung) zusammen. Die Krankheit entwickelt sich meist schleichend. Ein typisches Beispiel sind Jugendliche, die zuerst vegetarisch und dann vegan essen und anschliessend immer mehr Zutaten aus ihrem Speiseplan eliminieren, die sie als ungesund oder unökologisch betrachten. Zu Beginn erhalten sie oft viel Bewunderung. Erst mit der Zeit beginnt sich ihr Umfeld Sorgen zu machen.
Die Essstörung tritt häufig im Zusammenhang mit anderen psychischen Problemen auf und kippt nicht selten in eine Magersucht oder Bulimie. Wenn der Körper zu wenig Nährstoffe erhält, steige das Risiko für unkontrollierte Essattacken, erklärt Sarah Stidwill. Am nächsten Tag werde der Ausreisser dann wieder mit besonders rigidem Einhalten der Regeln kompensiert. Die Grenze zwischen konsequentem und krankhaftem Essverhalten sei fliessend, betont die Fachfrau. «Kritisch wird es, wenn man sich keine Ausnahmen mehr gönnt.»