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Gesünder leben?

Gesünder leben?

Leben mit Ticks und Zwangsstörungen

Viele Menschen haben irgendein sogenanntes Mödeli, also eine spezielle, aber harmlose Gewohnheit. Manche aber leiden unter eigentlichen Ticks und Zwängen, die ihr Leben zum Teil stark beeinträchtigen. Wir haben mit der Psychotherapeutin Bernice Würth darüber gesprochen.

Bernice Würth, was ist ein Tick?

Als Ticks gelten kurze Bewegungen oder Lautäusserungen in rascher Abfolge, ohne Bezug zur Situation, wie beispielsweise häufiges Blinzeln, Achselzucken oder Schreien. Die betroffene Person kann sie nicht selber steuern.

Was ist der Unterschied zu einer Zwangsstörung?

Bei Zwängen handelt es sich in der Regel um komplexere Abläufe, um eine Art Ritual, das immer gleich wiederholt werden muss. Genau wie bei Ticks können die Betroffenen den Ablauf nicht einfach weglassen, aber nicht, weil er automatisch geschieht, sondern, weil es sie zu sehr stressen würde. Der Leidensdruck ist bei Zwängen um einiges grösser als bei Ticks. Ein weiterer Unterschied ist, dass Ticks nicht zweckgerichtet sind. Sie geschehen einfach. Zwänge hingegen erfüllen eher einen Zweck, wie beispielsweise Ängste zu neutralisieren, ein schlechtes Gefühl zum Verschwinden zu bringen oder ein vermeintliches Unglück abzuwehren.

Also machen Zwänge durchaus Sinn?

Für die betroffene Person schon. Wenn sie ihrem Zwang folgt, erlebt sie Erleichterung – wenigstens einen Moment lang. Aber die Wirkung hält leider nicht lange an. Schon bald baut sich wieder Druck auf und die Handlung muss wiederholt werden.

Die ständigen Wiederholungen sind also das Problem?

Nicht nur, sondern auch die Intensität der Handlung. Wenn ich z. B. meine Hände desinfizieren möchte, reicht es, wenn ich das ein Mal mache. Ich brauche es nicht fünf Mal hintereinander innerhalb einer Stunde zu wiederholen, mich mit brühend heissem Wasser fast zu verbrennen oder meine Hände so stark zu schrubben, bis sie bluten. In all diesen Fällen schiessen die Handlungen weit übers Ziel hinaus und werden kontraproduktiv. Das kann im Alltag sehr störend und einschränkend sein. Auch weil die betroffenen Menschen von ihrem sozialen Umfeld erwarten, dass es sich ebenso verhält. Das kann zu Konflikten in der Familie oder in der Beziehung führen.

Was sind die häufigsten Zwänge?

Kontroll-, Wasch- und Sammelzwänge kommen am häufigsten vor. Fachleute unterscheiden zwischen Zwangsgedanken und -handlungen. Zunächst taucht bei der betroffenen Person ein Gedanke auf, der sich eben zwanghaft im Kopf festsetzt und ein negatives Gefühl erzeugt. Um dieses Gefühl wieder auszugleichen, kommt es im Anschluss in den meisten Fällen zu einer Zwangshandlung, die sozusagen eine Ventilfunktion erfüllt.

Wie entwickeln sich Zwänge?

Zwänge, vor allem der Kontrollzwang, haben oft einen schleichenden Verlauf, der sich mit der Zeit verstärkt. Zu Beginn überprüft jemand beispielsweise zweimal hintereinander, ob die Haustüre wirklich abgeschlossen ist. Mit der Zeit muss diese Handlung hundertfach am Tag ausgeführt werden, und meistens kommen noch weitere Bedingungen dazu, die ebenfalls erfüllt werden müssen.

Das klingt sehr anstrengend. Wie geht es den betroffenen Menschen dabei? 

Menschen, die unter Ticks und Zwängen leiden, schämen sich dafür und ziehen sich deshalb häufig zurück. Es ist ihnen durchaus bewusst, dass ihr Verhalten nicht der Norm entspricht und dass sie damit negativ auffallen. Auch verbringen viele Betroffene unverhältnismässig viel Zeit pro Tag mit Zwangshandlungen, was in der Regel ein normales Leben erschweren, wenn nicht verunmöglichen kann.

Wie geht man mit Menschen mit Zwangsstörungen um? Soll man sie auf ihr Verhalten ansprechen oder besser nicht?

Man sollte das Thema sehr einfühlsam, ohne zu werten, ansprechen, gerade weil es sehr stark mit Scham behaftet ist. Die Betroffenen genieren sich, da sie sich offensichtlich nicht im Griff haben. Wenn sie von aussen auf ihre Ticks und Zwangshandlungen aufmerksam gemacht werden, versuchen sie oft, diese zu unterdrücken, was in der Regel nicht gelingt und deshalb das Gefühl der Unzulänglichkeit nochmals verstärkt. Druck und Stress verschlimmern diese Störungen, deshalb sollte ein Gespräch über dieses Thema in einer ruhigen, sicheren Umgebung stattfinden.

(Fortsetzung weiter unten…)

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Kann man Ticks und Zwangsstörungen behandeln?

Hilfe für Betroffene

Ja, aber die betroffene Person muss die Bereitschaft zur Therapie mitbringen, muss Einsicht in ihr Leiden haben. Sie muss extrem motiviert sein, Hilfe zu holen und ihr Problem aktiv lösen zu wollen, denn der Weg ist anstrengend. In der Regel wird leider sehr spät psychotherapeutische Hilfe gesucht, meistens erst dann, wenn das Problem bereits chronisch ist. Das erschwert eine Behandlung zusätzlich. Auch sind Zwänge oft Begleiterscheinung von anderen Diagnosen wie z. B. ADHS, Depressionen, Angststörungen oder Suchtverhalten und müssen im Rahmen der Behandlung dieses Hauptleidens angegangen werden.

Wie geht man bei der Therapie konkret vor?

Bei Ticks kann es darum gehen, ein anderes Ventil zu suchen, das im Alltag weniger auffällig oder störend ist. Bei Zwängen muss die betroffene Person es aushalten können, eine Handlung zu unterlassen, die ihr Linderung bringt, oder eine Handlung ganz bewusst und achtsam auszuführen, beispielsweise eine Herdplatte ausschalten. So kann sich das Vertrauen ins eigene Gedächtnis aufbauen. Das alles erfordert viel Geduld und Disziplin.

Gibt es eigentliche Auslöser für Zwänge?

Leidet ein Elternteil bereits an Zwangsstörungen, dann ist die Wahrscheinlichkeit höher, ebenfalls davon betroffen zu sein. Traumatische Erlebnisse wie eine Trennung oder der Tod eines geliebten Menschen können weitere Auslöser sein. Aber auch, wenn negative Gefühle in der Familie oder in der Beziehung nicht ausgelebt werden dürfen und unterdrückt werden müssen, können Zwänge entstehen. Die meisten Betroffenen entwickeln ihre Störung im Alter zwischen 19 und 35 Jahren.

Können wir prophylaktisch etwas gegen Zwänge tun?

Ja, wir sollten alle möglichst authentisch sein und zu unseren Gefühlen, auch den negativen, stehen und Wege finden, diese Gefühle auf eine gesunde Weise zu regulieren, z. B. mit Bewegung wie Sport oder Tanzen, mit Begegnungen mit anderen Menschen oder mit einer anderen Tätigkeit, die uns Freude bereitet. Auch unseren Kindern sollten wir beibringen, dass es vollkommen normal ist, Angst zu haben oder mal wütend oder traurig zu sein.

Wir sollten also negative Gefühle aushalten können?

Prominente Betroffene
  • Der schottische Sänger Lewis Capaldi (26) leidet am wohl bekanntesten Tick, dem Tourette-Syndrom. Er musste deswegen schon Konzerte abbrechen und hat seine diesjährige Tournee abgesagt.
  • Von einer milderen Form, die sich nur selten bemerkbar macht, ist die US-Sängerin Billie Eilish (21) betroffen.
  • Vor Kurzem hat sich der britische Ex-Fussballer David Beckham (48) dazu geäussert, unter einem Putz- und Aufräumzwang zu leiden.
  • Der spanische Tennisspieler Rafael Nadal (37) ist trotz oder gerade wegen der Zwangshandlungen, die er bei seinen Spielen vollführt, sehr erfolgreich. So stellt er unter anderem die Trinkflaschen in den Pausen immer im genau gleichen Abstand vor sich hin, und vor seinem eigenen Aufschlag befolgt er eine sehr genaue Abfolge: Griff an die Hose, dann Shirt, Shirt, Nase, Ohr, Nase, Ohr, Aufschlag.

Genau. Wenn ein Kind beispielsweise stürzt und weint, sollten ihm Erwachsene nicht einfach sagen, dass es doch gar nicht schlimm sei. Damit nimmt man dem Kind die Kompetenz, seine eigenen Gefühle zu fühlen, und am Schluss weiss es nicht, was es empfindet. Wenn man der eigenen Wahrnehmung nicht mehr vertrauen kann, muss man kompensieren, z. B. mit Ticks und Zwängen.

Zum Schluss: Leiden Sie selbst unter einem Tick oder Zwang?

Ja, als Kind neigte ich dazu, viele Dinge mit dem jeweiligen Datum und der genauen Uhrzeit zu versehen. Ich besitze heute noch eine Schachtel mit Sachen, die alle penibel angeschrieben sind. Und heute habe ich oft das Bedürfnis, mein Auto zweimal hintereinander mit der Fernbedienung abzuschliessen. Zur Sicherheit. Nur wenn viele Leute vor Ort sind, mache ich das nicht, weil es ja zweimal tönt und ich nicht möchte, dass die anderen das hören.

von Nadia Fernández,

veröffentlicht am 21.09.2023


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