Mehr als ein Drittel der Schweizer Bevölkerung leidet unter Einsamkeit. Das ist nicht nur ein privates Problem, sondern zieht gesundheitliche Folgen nach sich. Eine Fachfrau erklärt, was man dagegen tun kann.
Hilde Schäffler: Einsamkeit ist sehr verbreitet. In Umfragen geben stets mehr als ein Drittel an, dass sie manchmal, häufig oder sehr häufig darunter leiden. Möglicherweise sind sogar noch mehr betroffen als sich dazu bekennen.
Ja, das ist ein schambesetztes Thema. Einsamkeit wird mit gesellschaftlichem Scheitern in Verbindung gebracht. Wer keine Freunde hat, fühlt sich oft minderwertig. Es trifft aber nicht zu, dass nur Sonderlinge und «Gschpässige» betroffen sind. Einsamkeit kann jede und jeden treffen.
Zum Beispiel nach Schicksalsschlägen wie Todesfällen in der Familie, Krankheiten und Unfällen. Bricht sich jemand den Fuss, erhält er für eine gewisse Zeit meist mehr Aufmerksamkeit und Zuwendung. Bei einer längeren, chronischen Krankheit ziehen sich Bekannte aber häufig immer mehr zurück, weil sie überfordert sind und sie die Situation belastet. Besonders schwierig ist es bei psychischen Krankheiten wie etwa Depressionen. Viele psychisch kranke Menschen vereinsamen zusehends, was ihren Zustand noch verschlimmert.
Ja, das Risiko steigt, wenn die Kinder ausziehen, man aus dem Berufsleben ausscheidet, der Partner oder die Partnerin wegstirbt und auch der Bekanntenkreis immer kleiner wird. Besonders ab 75 sind viele auch körperlich weniger mobil und können am gesellschaftlichen Leben weniger teilnehmen. In diesem Alter steigt die Einsamkeitskurve deshalb deutlich an. Aber auch viele Junge fühlen sich einsam.
Migros Engagement unterstützt diverse Angebote gegen die Einsamkeit:
Betroffen ist vor allem die Gruppe zwischen 18 und 24 Jahren. Während sich ältere Menschen schon besser ans Alleinsein gewöhnen konnten, leiden junge Menschen stärker darunter. Zudem wird diese Lebensphase gemeinhin mit wilden Partys und einem aktiven Sozialleben assoziiert. Wer da nicht mithalten kann, fühlt sich schnell ausgeschlossen. Aber auch Menschen mit vielen Kontakten können sich einsam fühlen.
Genau. Die Anzahl Bekanntschaften sagt wenig darüber aus, wie gut man sich eingebunden fühlt. Man kann Hinz und Kunz kennen und trotzdem einsam sein. Zwei, drei vertraute Personen, mit denen man über wichtige Dinge sprechen kann, sind eben wichtiger als viele oberflächliche Kontakte.
Ja: Frauen leiden häufiger unter Einsamkeit, obwohl sie in der Regel mehr Beziehungen pflegen als Männer. Aber sie brauchen eben auch mehr. Und Frauen überleben ihre Partner häufiger als umgekehrt. Ältere Männer dagegen sind oft stark auf ihre Ehefrauen fixiert. Stirbt diese weg, können sie ebenfalls sehr einsam sein.
Nein, das stimmt nicht. Im Gegenteil: Ein Migrationshintergrund ist ein veritables Risiko – am stärksten bei der ersten Generation, aber auch auf Secondos wirkt es sich noch aus. Viele sind zwar in der eigenen Community gut vernetzt, aber in der Schweiz nicht richtig angekommen. Diesen Effekt beobachtet man sogar bei Personen mit italienischen Wurzeln.
Ich habe schon in Österreich mehrmals den Wohnort gewechselt und ausserdem in England und Australien gelebt. Vor gut 12 Jahren bin ich nach Bern gekommen. Ehrlich gesagt, ist es mir nirgends so schwer gefallen, neue Freundschaften aufzubauen.
Wir sind von unserer Natur her soziale Wesen. Früher hätte man gar nicht überleben können ohne eine Gruppe. Es gibt zwar Menschen, die sich ganz bewusst von der Gesellschaft abgrenzen – etwa Einsiedler. Aber auch dies geschieht in Bezug auf die anderen: Sie definieren sich darüber, Distanz zu halten. Und sie suchen die Abgeschiedenheit aus einem spirituellen Kontext heraus. Das ist etwas ganz Anderes, als wenn man unfreiwillig allein ist.
Nein, das ist nicht dasselbe. Viele Menschen brauchen auch Zeiten, in denen sie allein sind und geniessen die Ruhe – aber immer im Bewusstsein, dass sie gut eingebunden sind in eine Partnerschaft oder einen Freundeskreis. Das subjektive Leiden entsteht, wenn man sich ausgegrenzt fühlt und einen Mangel an Verbundenheit empfindet.
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Studien zeigen, dass einsame Menschen häufiger an Schlafstörungen, depressiven Symptomen und Rückenschmerzen leiden. Sogar Krebs, Herzinfarkt, Schlaganfall und Demenz treten gehäuft auf. Einsamkeit bedeutet Stress. Obwohl man kaum darüber spricht: Sie kostet mehr Lebensjahre als Rauchen oder Übergewicht.
Am besten ist es, wenn man Acht gibt, gar nicht erst in so eine Situation zu kommen. Wer merkt, dass er nicht gerne allein lebt, sollte sich rechtzeitig um eine gemeinschaftliche Wohnsituation kümmern. Wichtig ist es auch, aktiv zu bleiben, Freizeitaktivitäten zu pflegen, in einem Verein mitzumachen, sich gemeinnützig zu engagieren und Freundschaften nicht einschlafen zu lassen.
Ja, besonders für ältere Menschen. Es gibt zwar viele gute Angebote, um wieder in Kontakt zu kommen: Mittagstische, gemeinsame Wanderungen, Gymnastik oder Tanzveranstaltungen. Doch wer lange allein war, erweist sich im sozialen Umgang oft etwas unbeholfen. Einsame Menschen laufen Gefahr, dass sie zu viel reden, wenn sie dann einmal die Gelegenheit erhalten, und nur von sich erzählen, statt auch zuzuhören. Dann gehen andere schnell wieder auf Distanz und die negative Erfahrung schwächt das Selbstbewusstsein.
Ein Schleichweg aus der Einsamkeit heraus kann es sein, den Zustand erst einmal zu akzeptieren und damit Frieden zu schliessen. Dabei können Achtsamkeits-Meditationen helfen. Anleitungen findet man im Internet oder bei Apps für das Smartphone. Das Ziel darf aber nicht sein, in der Einsamkeit zu verharren, sondern sich damit auseinanderzusetzen, geduldiger zu werden und sich selber nicht unter Druck zu setzen.
In dieser Zeit gibt es weniger Möglichkeiten für spontane Begegnungen, weil sich alle in die warmen Wohnungen verkriechen. Und wenn andere im Familienkreis feiern, empfindet man das Alleinsein meist bedrückender.
Es wäre sinnvoll, sie darauf anzusprechen. Vielen tut es gut, nur schon mal darüber zu reden. Man könnte die Person auf Kontaktangebote aufmerksam machen. Es kann aber auch sein, dass man auf Ablehnung stösst. Und wichtig ist, sich der eigenen Grenzen bewusst zu sein: Jemanden auf Einsamkeit anzusprechen heisst nicht, dass man dann automatisch zuständig ist, das Problem zu lösen