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Gesünder leben?

Gesünder leben?

«Man sollte seinem Arzt kritische Fragen stellen»

In der Schweiz werden zu oft zu viele oder gar unwirksame Medikamente eingenommen. Hausarzt Stefan Maydl rät Patientinnen und Patienten, ärztliche Verschreibungen nicht einfach so hinzunehmen.

Ich bin heute mit Kopfweh aufgewacht und habe eine Schmerztablette genommen. Was sagen Sie als Arzt dazu?

Das ist okay, das mache ich auch ab und zu.

Ich habe Aspirin genommen. Zu welchem Mittel würden Sie raten?

Am besten man nimmt eins, das man schon kennt und welches einem der Hausarzt oder die Apotheke verordnet hat. Grundsätzlich gibt es drei Stärkestufen, und es sollte ein Mittel der niedrigsten Stufe sein, etwa Aspirin, Paracetamol oder Ibuprofen. Das sind Medikamente, die man gelegentlich auch ohne Arztkontakt einnehmen kann, ohne bleibende Schäden für die Gesundheit befürchten zu müssen.

Ich könnte es auch ohne Medikamente versuchen. Was empfehlen Sie?

Die meisten Schmerzen verschwinden nach einiger Zeit von allein. Die Selbstheilungskräfte des Körpers sind enorm. Man sollte einfach einen Tag zu Hause im Bett bleiben, viel trinken, zwischendurch einen Spaziergang an der frischen Luft machen und Alkohol und Rauchen vermeiden – in 90 Prozent aller Fälle verschwinden die Kopfschmerzen im Laufe des Tages.

Muss man Schmerzen auch mal aushalten können? Und wenn ja, wie viele? 

Es ist sehr individuell, wie viel Schmerz man erträgt oder nicht, das schätzt am besten jeder für sich selbst ein. Klar ist: Schmerz gehört zum Leben, er hat eine wichtige Schutzfunktion. Problematisch wirds, wenn der Schmerz sich davon löst und chronisch wird.

Wann ist es zu viel mit den Medikamenten?

Der Übergang ist fliessend. Und das Problem sind nicht nur zu viele Medikamente, sondern auch die Einnahme von solchen, die gar nichts bewirken. Heikel ist zudem, wenn man fünf oder mehr Medikamente gleichzeitig einnimmt. Es erhöht das Risiko, durch Wechselwirkungen Schaden zu erleiden, weil man oft nicht weiss, wie unterschiedliche Medikamente sich gegenseitig verstärken oder abschwächen.

Ein Medikament allein ist oft gar nicht das Problem?

Meist nicht, ausser bei Schlaf- oder Schmerzmitteln. Besonders heikel ist ergänzende Selbstmedikation mit frei verkäuflichen Mitteln, die der behandelnde Arzt gar nicht mitbekommt. Das passiert gerne mit pflanzlichen Arzneimitteln, die harmlos scheinen, jedoch ebenfalls Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten verursachen können. Und über diese wissen wir zum Teil noch viel zu wenig.

Wieso verschreiben Ärzte so viele Mittel?

Oft denken sie, dass Patienten eine Medikamentenverschreibung erwarten und wollen dies erfüllen. Auch die Angst vor Unterlassungsfehlern spielt wohl eine Rolle. 

Und da verschreiben sie sogar solche, die nichts bewirken?

Problematische Säureblocker

25 Prozent der Schweizer Patientinnen und Patienten nimmt Säureblocker zu lang und zu hoch dosiert ein. Dies ergab eine Studie von medix Schweiz, die 2021 veröffentlich wurde und auf den Daten von 1.3 Millionen Helsana-Versicherten basiert. 2019 wurden rund 190 Millionen Franken für Säureblocker über die Krankenkassen abgerechnet. «Unsere Daten zeigen deutlich, dass etwas falsch läuft», sagte Studienleiter und medix-Hausarzt Leander Muheim im «Tages-Anzeiger».

Ja, ein Klassiker sind Säureblocker bei Magenbeschwerden. Die werden wohl am meisten ohne handfesten medizinischen Grund verordnet – oder dann zu lange. Vermutlich, weil sie hochwirksam sind und man davon ausgeht, dass sie schon nicht schaden. Häufig aber wird die Einnahme zum Selbstläufer, über Jahre. Und manchmal sind die Magenbeschwerden auch nur entstanden, weil man zu viele andere Medikamente gleichzeitig einnimmt.

Wollen die meisten Menschen nicht so wenig Mittel wie möglich einnehmen?

Das ist tatsächlich so. Aber wenn ein Arzt Medikamente verordnet, hinterfragen das die wenigsten. Auch die TV-Werbung hat einen problematischen Einfluss, insbesondere bei freiverkäuflichen Arzneimitteln. Da sieht man gut gelaunte, rüstige Senioren, die eigentlich Hüftschmerzen haben, aber nach zwei Wochen Voltaren wieder glücklich mit den Enkeln durch die Landschaft biken – und will das natürlich auch.

Man sollte also seinen Arzt kritisch hinterfragen?

Unbedingt! Stellen Sie Ihrem Arzt Fragen: Warum muss ich das Medikament nehmen? Welche Therapieoptionen habe ich? Gibt’s Alternativen? Was passiert, wenn ich das nicht nehme? Ich frage als Patient zum Beispiel immer: «Würden Sie das Medikament selbst nehmen in meiner Situation? Würde Sie es Ihrem Vater oder Ihrer Mutter verschreiben?» Sie als Patient sind der Experte für Ihren Körper, und Ihr Arzt wird zusammen mit Ihnen eine auf Sie persönlich abgestimmte, optimale Behandlungsstrategie erstellen können.

Welche Medikamente werden zu oft verschrieben? 

Über die Säureblocker haben wir schon gesprochen. Auch Cholesterinsenker werden zu oft verschrieben, als Vorbeugung gegen Herzinfarkt. Viele über 75 nehmen sie, obwohl sie einen kaum messbaren Effekt zeigen und manchmal sogar schaden können. Oft beginnt das nach einer «allgemeinen» Gesundheits-Checkup-Untersuchung, die generell eher wenig sinnvoll sind. Dabei werden häufig erhöhte Cholesterinwerte gemessen, und sofort im Anschluss verschreibt der Arzt dann ein Medikament. Aber jeden Tag ein Arzneimittel zu schlucken, das nichts nützt und erst noch Nebenwirkungen haben kann, macht kein bisschen gesünder.

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Haben Sie weitere Beispiele?

Unnötige Medikamente weglassen

Eine Studie des Inselspitals Bern aus dem Jahr 2021 zeigt, dass neun von zehn älteren, multimorbiden Patientinnen und Patienten teils unnötige oder ungeeignete Medikamente erhalten. Und dass es sich nicht negativ auf ihren Gesundheitszustand auswirkt, wenn einige davon reduziert oder ganz weggelassen werden. Studienleiter Nicolas Rodondi geht davon aus, dass eine intensivere Beratung sowie ein besseres Einhalten der Medikationsempfehlungen auch die Zahl der Krankenhauseinweisungen reduzieren könnte.

Es werden leider oft unzweckmässige Schmerzmittel verschrieben, etwa morphinhaltige Präparate bei Rückenschmerzen, die abhängig machen können. Dasselbe gilt für Schlafmittel, besonders bei älteren Menschen – von rezeptfreien Baldriantropfen aus der Apotheke bis zu extrem problematischen Hypnotika wie zum Beispiel Valium, das neben Abhängigkeit auch nächtliche Stürze verursachen kann.

Sind ältere Menschen generell stärker betroffen?

Ja, weil mit zunehmendem Alter mehr gesundheitliche Probleme auftauchen, die man halt bekämpft. Da gerät man leicht in einen Medikamenten-Teufelskreis.

Welche Rolle spielen die Apotheken?

Eine wichtige, denn für viele sind sie die erste Anlaufstelle. Oft sind sie auch näher dran am Patienten. Natürlich verdienen Apotheken ihr Geld mit dem Verkauf von Medikamenten, aber inzwischen sind viele auf diese Problematik sensibilisiert.

Wann sollte man als Angehöriger hellhörig werden?

Wenn jemand erzählt, dass er ohne die rosa Pillen abends nicht mehr schlafen kann. Oder wenn man einen Medikamentenplan mit mehr als fünf Arzneimitteln sieht und die Person nicht genau sagen, wofür welches Medikament eigentlich dient.

Wie schädlich kann der Überkonsum sein?

Sehr schädlich. Gewisse Psychopharmaka erhöhen das Risiko für einen plötzlichen Herztod. Medikamente zur Blutverdünnung können in Kombination mit bestimmten Schmerzmitteln zu einer tödlich verlaufenden Magenblutung führen. Es gibt dazu halbwegs aktuelle Zahlen aus Deutschland: Dort sterben pro Jahr 25'000 Patienten an unerwünschten Medikamenten-Wirkungen, bis zu einer halben Million pro Jahr landen deswegen im Krankenhaus. In der Schweiz dürften die Zahlen im Verhältnis zur Bevölkerung ähnlich sein.

Zunahme bei Opioiden

Die Zahl der Vergiftungsfälle wegen Opioiden hat in der Schweiz in den vergangenen 20 Jahren stark zugenommen. Gingen im Jahr 2000 noch 1.4 Anrufe pro 100'000 Einwohner bei der Fachstelle Tox Info Suisse ein, waren es 2019 bereits 3.9 – eine Zunahme um 177 Prozent. Dies ergab eine Studie der ETH Zürich. Die Verkaufszahlen von Opioiden haben sich in dieser Zeit fast verdoppelt – von 14'300 Einheiten pro 100'000 Einwohner auf 27'400. Am häufigsten im Umlauf ist das schwache Opioid Tramadol gefolgt vom starken Oxycodon. Zwischen 2009 und 2016 haben sich dessen Verkaufszahlen mehr als verdoppelt. Forschungsleiterin Andrea Burden fürchtet, diese Zahlen seien «nur die Spitze des Eisbergs»

Was ist mit der Abhängigkeit von Medikamenten? 

Verlässliche Zahlen gibt es hierzu leider nicht, aber ich bin jetzt 20 Jahre in diesem Beruf und habe schon einiges gesehen. Es gibt viele, die ihren Alltag ohne Schlafmittel, Schmerzmittel oder Psychopharmaka nicht mehr stemmen könnten – sie leiden, wie Alkoholiker, unter einer klassischen Suchterkrankung. Besonders problematisch ist es, Opiate als Schmerzmittel einzusetzen. Von denen braucht es dann immer mehr und mehr, damit sie noch wirken. Man wird unvermeidlich süchtig. 

Opiate sollte man gar nie verschreiben?

Sie können sinnvolle Therapiealternativen sein, bei der kurzfristigen Behandlung akuter Schmerzen, etwa nach einer Operation, und bei Schmerzen, die durch eine Tumorerkrankung hervorgerufen werden. Bei der Behandlung anderer chronischer Schmerzen haben sie keinen Platz. Hier haben Ärzte gerade im Hinblick auf die amerikanische Opioidkrise eine besondere Verantwortung, denn die Mechanismen, die dort wirkten, gibt es auch hier: Lobbyarbeit, die subtile Beeinflussung der Ärzte, sowie die Bedürfnisse der Patienten, die natürlich keine Schmerzen haben wollen. Die besten Mittel dagegen sind der kritische Patient und der kritische Arzt.

von Ralf Kaminski,

veröffentlicht am 04.09.2023


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