Nora Honegger hat ihre Kindheit auf der Maighelshütte verbracht. Ihre Eltern waren die Hüttenwarte der SAC-Hütte. Vor vier Jahren ist die Bündnerin in ihre Fussstapfen getreten und übernahm die Hütte mit ihrem Freund Mauro Loretz. Leicht ist ihr die Entscheidung nicht gefallen.
Es begann mit einer Pro-Kontra-Liste. Weniger Zeit mit Freunden. Ein klares Kontra. Noch näher an den Bergen leben. Ein klares Pro. Wohin aber mit der Selbstständigkeit? Ist das nun was Gutes oder was Schlechtes? Es sind lange Gespräche, die Nora Honegger vor fünf Jahren mit ihrem Freund Mauro Loretz führte. Wollen sie sich wirklich binden an dieses Haus aus Stein? An die Maighelshütte, die wachend auf dem Boden der Gemeinde Tujetsch GR auf einem Ausläufer des Piz Cavradi steht? Oder anders gefragt: Kann Nora Honegger überhaupt ohne diese «zweite Heimat» leben? Ihre Eltern haben die SAC-Hütte 1991 übernommen, als Nora zwei Jahre alt war. Sie hat jeden Sommer, unzählige Wochenenden, viele Winter hier oben verbracht.
Spätsommer 2022. Die Hitze der letzten Monate hat der Landschaft einen leichten Braunton verpasst. Wer es nicht mitbekommen hat, könnte meinen, es sei bereits Herbst. Mauro Loretz (33) schiebt mit einer Schubkarre Holzscheite in Richtung Hütte. Nora Honegger (34) sitzt auf der Terrasse über ein Stück Papier gebeugt an einem Tisch, das Val Maighels im Rücken, die Sonne im Gesicht. Fünf Jahre ist es her, seit das Paar die Pro-Kontra-Liste ausgefüllt hat. Es war trotz Pragmatismus eine Herzensentscheidung, als sie ihre Bewerbung für die Hütte schlussendlich abschickten. Sie habe sich gefragt, wie es wäre, wenn nun andere Hüttenwarte die Maighelshütte führen würden. «Die Hütte ist mein zweites Zuhause. Das wollte ich irgendwie nicht verlieren», sagt Nora Honegger.
Es war Nora Honeggers Vater Bruno, der vor über dreissig Jahren selbst Hüttenwart werden wollte. Er stammt ursprünglich aus Zürich und arbeitete als Bergführer. Noras Mutter ist in Sedrun GR aufgewachsen, arbeitete damals in einem Reisebüro in Zürich. Sie zögerte. «Sie ist immer oft und gerne gereist und wusste, dass sie sich als Hüttenwartin an diesen Ort bindet», sagt Nora Honegger. Trotzdem übernimmt die Familie die Hütte, die auf 2313 Meter in der Nähe der Rheinquelle liegt.
Soweit sie sich erinnern kann, habe sie das Leben in den Bergen geliebt. «Als Einzelkind sah ich natürlich nur Vorteile darin. Ich hatte immer jemand, der sich mit mir beschäftigte. Ob das nun jemand vom Personal war oder Kinder von Gästen.» Als Nora in den Kindergarten kommt, achten ihre Eltern darauf, dass so oft wie möglich jemand von ihnen in Sedrun sein kann. Dort hat die Familie eine Wohnung. Das habe aber nicht immer geklappt. «Ich war auch immer wieder bei meiner Grossmutter oder den Nachbarn zum Zmittag.»
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Später, als sie älter ist, kann sie auch mal mit Verwandten und Bekannten in die Ferien. Mit 16 zieht die Bündnerin für die Kantonsschule nach Chur. Danach studiert sie an der Pädagogischen Hochschule und zieht nach Zürich, um als Lehrerin zu arbeiten. «Die Maighels», wie Nora Honegger die Hütte nennt, blieb aber immer ein wichtiger Anziehungspunkt. So habe sie auch während ihrer Ausbildung immer wieder bei ihren Eltern gejobbt, um Geld zu verdienen. «Aber ich habe immer gesagt, dass ich die Hütte sicher nie übernehmen werde.»
Als ihre Eltern über eine Pensionierung nachdenken, spricht die Lehrerin aber doch mit ihrem langjährigen Freund darüber. «Ich wusste, dass ich es nur mit ihm machen würde.» Mauro Loretz ist gelernter Ofenbauer und wie seine Freundin in Sedrun aufgewachsen: «Ich habe wohl schon früher damit geliebäugelt als Nora.» Es kommt zur Erstellung der Pro-Kontra-Liste. Und zur Bewerbung. «Am Ende haben wir richtig gebibbert.» 16 andere, die meisten davon Paare, wollen die Hütte ebenfalls bewirtschaften. Die Freude sei gross gewesen, als sie erfuhren, dass die Sektion sich für sie entschieden hatte. «Nicht nur bei uns, sondern auch bei meinen Eltern.» Nach über einem Vierteljahrhundert sei es nicht leicht gefallen aufzuhören. Und so sei es ein Abschied auf Raten. Die einstigen Hüttenwarte arbeiten die Neuen ein und helfen auch heute noch regelmässig. «Sie haben hier noch immer einen Schlafplatz auf der Hütte und sind jederzeit willkommen», sagt Nora Honegger.
In der Hütte, die auf sechs Zimmer verteilt Platz für 83 Gäste bietet, haben die beiden nicht viel verändert. Ein bisschen was neu dekoriert. Zudem achten sie – soweit als möglich – darauf, regionale Produkte zu servieren. Ihre grösste Belohnung? «Zufriedene Gäste!», sagt Nora Honegger. «Wenn wir ein Kompliment bekommen und spüren, dass es den Leuten bei uns auf der Hütte gefällt, dann wissen wir, dass wir unseren Job hier oben gut machen.»
Da die Hütte sowohl im Sommer als auch im Winter offen ist, können die beiden von ihrem Beruf als Hüttenwarte leben. Freie Zeit haben sie während der beiden Hauptsaisons nur wenig. Sie schätzen es umso mehr, wenn am Morgen mal Zeit bleibt, um selber eine kurze Skitour zu machen. In die Ferien können sie dann, wenn die Hütte geschlossen ist. Wohin sie reisen, entscheiden sie nach Lust und Laune und ganz ohne Pro-Kontra-Liste. Hauptsache es hat Berge in der Nähe.