Jonas Straumann ist Musiker – und fast taub. Er komponiert und spielt auf dem Handpan, ohne Noten, aber mit Intuition.
«Ich fühle, was du hörst. Ich bin fast gehörlos.» Das steht auf dem Schild, das der Musiker bei Strassenauftritten vor sich auf den Boden legt. Wenn er das Publikum mit seinen melodiösen Handpan-Klangwelten in den Bann zieht.
Jonas Straumann ist fast taub geboren. Im linken Ohr ist er komplett gehörlos, im rechten hört er ungefähr zehn Prozent ohne Hörgerät. Das Hörgerät hilft wie ein Verstärker. So nimmt er akustische Geräusche zwar wahr, aber mehr wie einen Klangbrei: «Alles ist verschwommen, irgendwie verzerrt, tief und dumpf.»
Man sieht und hört seine Behinderung kaum. Seine Aussprache ist klar, nur manchmal sind die Zischlaute etwas undeutlich. Der 26-Jährige liest Lippen, interpretiert Mimik, Gestik, Körpersprache. Die Lautsprache hat er von klein auf gelernt und auch mit den Eltern so kommuniziert. Jahre später hat er die Gebärdensprache unter Gehörlosen gelernt. Wegen seiner Behinderung wurde er stets unterschätzt. Es war die Musik, die ihn glücklich gemacht hat, sie war und ist sein Zufluchtsort. Sein erster musikalischer Kontakt? Das waren die Schallplatten der Schlümpfe: «Ich habe die Lautstärke voll aufgedreht und mich mit dem Rücken an die Boxen angelehnt. Das war ein gutes Gefühl», sagt er lachend.
Im Rhythmus-Unterricht an der Schule hat Jonas mit neun Jahren mit Djembé-Trommeln begonnen. Später hat er zwei Jahre lang Schlagzeugunterricht genommen: «Das Schlagzeug ist gut wahrnehmbar. Man spürt den Bass, den ‹Wumms› in der Hand und im Handgelenk, alles vibriert.» Gitarre spielen hat er sich selbst beigebracht. Während seiner KV-Ausbildung vernachlässigte er die Musik aber immer mehr. Nicht zuletzt auch, weil es in der Wohngruppe kein Schlagzeug gab. Zudem beschäftigte er sich mehr mit Computern und Grafik. Statt sich nach der Lehre eine Stelle zu suchen, machte er sich selbständig. Er gründete ein Magazin für Gehörlose und Hörbehinderte. Das Netzwerk wurde später von einem Schweizer Verband der Höhrbehinderten/Gehörlosen übernommen. Jonas bekam dort eine Vollzeit-Anstellung im Bereich Kommunikation und Medien.
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Der gebürtige Solothurner ist ein Macher, will den eigenen Weg gehen. Nur seinen Wunsch, auf der Bühne zu stehen, liess er sich von seinem früheren Umfeld ausreden. Ein fast tauber Musiker? Das geht doch nicht. Ein Klischee, wie er heute weiss. Es war vor zwei Jahren, als er sich entschloss, seinen Träumen zu folgen. Er verliess den Job – und kaufte sein erstes Handpan. Jonas sitzt auf seinem Sofa zu Hause in Winterthur. Das Blechmusikinstrument hält er auf dem Schoss, lässt seine Hände und Finger darüber fliegen, klopft, stupst an, streicht sanft. «Nächtelang habe ich durchgespielt. Ich war völlig fasziniert.» Jedes Handpan hat sieben bis neun Klangfelder, die jeweils einer Tonleiter entsprechen. Töne nebeneinander geben einen Akkord. Der junge Musiker hat sich angeeignet, welche Töne ungefähr zusammenpassen. Von Harmonielehre verstehe er nur wenig. Lieder komponiere er nicht nach Noten, sondern nach Emotionen: «Der Rhythmus ist in mir drin», seine grünbraunen Augen blitzen auf. «Die Songs fliessen aus dem Herzen heraus, aus meiner Gefühlslage. Ich fange mit einer Improvisation an und wenn Spielfluss und Gefühlslage übereinstimmen, dann fühlt es sich an wie ein Geschenk.»
Dann fühlt er seine Musik. Medizinisch betrachtet kann er die tiefen Grundtöne akustisch besser vernehmen. Sein Hörgerät ist auf das Handpan angepasst. Obertöne kann er mit dem Ohr keine wahrnehmen. «Und dennoch habe ich das Gefühl, ich nehme alles wahr.» Es ist schwierig zu erklären, auch Jonas selbst versteht es nicht genau. Klänge sind Schallwellen und verursachen Vibrationen. Es sei aber nicht so, dass er dasitze und die Vibrationen bewusst wahrnehme, sagt er. Der Musiker vermutet, dass seine kognitiven Fähigkeiten sehr ausgeprägt sind. Er denkt sehr schnell, schreibt sehr schnell. «Möglicherweise versucht mein Gehirn, basierend auf allen Informationen, die ich über die Sinneskanäle wahrnehme, die oberen Töne zu rekonstruieren.»
Vielleicht braucht es ja auch nicht immer eine logische Erklärung. Jonas hat ein Gespür für Musik. Er weiss, aus welchem Gefühl heraus er die einzelnen Stücke komponiert hat. Die Schönheit seiner Melodien wird er nie mit seinem Hörorgan wahrnehmen. Wird nie erfahren, wie seine Musik wirklich ist. Nur wenn die Leute stehen bleiben und manche sogar tanzen, spürt er ihre Freude.
Ob es nicht schöner wäre, besser zu hören? Natürlich ist diese Frage präsent. Oft wird sie von aussen an ihn herangetragen. Die Möglichkeit eines Hörimplantats im rechten Ohr wurde zwar abgeklärt, das Risiko einer Operation mit ungewissem Erfolg wäre aber zu hoch. Jonas hat seinen Hörverlust akzeptiert. Manchmal ist ihm die Stille sowieso lieber. Dann legt er auch das Hörgerät ab. Etwa, wenn der Strassenlärm beim Musizieren stört oder wenn er meditiert. In aller Ruhe kann er so bei sich sein und auf sein Inneres hören.