Geschmack stiftet Identität und wird mancherorts gar zum Statussymbol. Schulen oder verfeinern kann man den Geschmackssinn allerdings nicht. Wie er funktioniert.
Geschmack entsteht nicht nur auf der Zunge, sondern auch im Kopf, in der Kindheit und im Labor. Geschmack ist genetisch, kulturell sowie sozial bedingt. Eine hochkomplexe Sache.
Wir befanden uns in einem Szenelokal, wie man es in vielen Städten kennt. Der Kellner öffnete den Mund, und da purzelte die Wortkaskade heraus: «Ein Hauch Thymian, ein Klacks Mascarpone-Sauerrahm, eine Prise Fleur de Sel, ein Kitzeln auf der Zunge, ein warmes Gefühl im Rachen, herbsüss, würzig, aber nicht penetrant, ein krasses Feeling, ein Flair Nordnorwegen, ein Kick Indochina, alles hausgemacht.»
Ein Blick in die Karte verriet, dass er über den bunten Marktsalat an Hausdressing sprach, über den Hackbraten auf Lauchstampf und die Kürbiswürfel im Blätterteig. Er sprach über Essen und strahlte in die Runde. Den Gästen lief nicht das Wasser im Munde zusammen, vielmehr blieben ihnen die vielen Begriffe im Hals stecken. (Fortsetzung weiter unten...)
Die Demonstration des geschulten Geschmacks gehört heute offenbar zum guten Ton. Essen ist nicht mehr bloss Nahrungsaufnahme, sondern Ereignis und Profilierung. Ein Stück Fleisch schmeckt nicht einfach gut, sondern riecht wie ein Spaziergang durch eine Waldlichtung, weckt Sehnsucht, macht wild, löst in der Mundhöhle eine Geschmacksexplosion und das totale Gefühlschaos aus. Und dies, obwohl unser Gaumen gerade einmal fünf Geschmäcke identifizieren kann: süss, sauer, salzig, bitter und umami (japanisch für Wohlgeschmack, entspricht dem Natriumglutamat).
Der Geschmackssinn ist ein hochkomplexes System, das genetisch, kulturell und sozial bedingt ist. Auf saure und bittere Geschmäcke reagiert er sofort, weil sie den Menschen schon seit jeher vor unreifen, verdorbenen oder giftigen Nahrungsmitteln warnen.
Das Gegenteil ist bei süss und salzig der Fall, da sie den Körper auf ernährungswichtige Stoffe hinweisen. Für die Wahrnehmung sind Geschmacksknospen auf der Zunge verantwortlich, die sich beim Fötus bereits im zweiten Schwangerschaftsmonat bilden und über das Fruchtwasser trägt die Mutter zur Geschmacksprägung bei.
Später sind es die Sozialisation, die Rezepte der eigenen Familie, die jeweilige Esskultur, die unser Geschmacksempfinden prägen. Es kommt auch nicht von ungefähr, dass ein «Es schmeckt wie bei Grossmutter» das grösste Kompliment ist, das der Restaurantkritiker zu verteilen hat. (Fortsetzung weiter unten...)
Die schlechte Nachricht für all jene, die gern mit ihrem gesammelten Geschmackswortschatz beim Essen prahlen: der Geschmackssinn lässt sich als solcher nicht schulen und verfeinern. Wie intensiv man süss, sauer, salzig, bitter oder umami schmeckt, ist eher eine genetische Frage. Man unterscheidet zwischen Super-, Medium- und Non-Tastern. Dem Super-Taster schmeckt etwa eine Cola viel zu intensiv. Medium-Taster machen zwischen fünfzig und sechzig Prozent der Gesellschaft aus, und die Non-Taster konsumieren eher fettige Speisen und starke Alkoholika.
Der Geschmackssinn lässt sich nicht verändern, das ganze Geschmackssystem allerdings schon. Die gustatorische Wahrnehmung kann durch intensives Training verfeinert werden, indem man sich immer wieder Reizen aussetzt und so das Erinnerungsvermögen stärkt. Der Geruchssinn aber macht den Geschmackssinn erst aus, denn er ist der einzige, der mit dem limbischen System im Gehirn verbunden ist. Dort, wo Emotionen verarbeitet werden.