Für die einen rührt eine Pustel auf der Haut von einem Mückenstich her, für andere ist es der mögliche Anfang eines Hautkrebses. Gemeint sind Menschen mit einer hypochondrischen Störung – landläufig als Hypochonder bezeichnet.
Menschen mit einer hypochondrischen Störung leben in einem Zustand der Angst vor Krankheiten. Es fällt ihnen schwer, mit der Unsicherheit zu leben, dass nicht für jedes körperliche Symptom eine Ursache zu finden ist. Die Lebensqualität der Betroffenen und ihres Umfelds wird oft massiv eingeschränkt. Ist Hypochondrie behandelbar? Wie kann das Umfeld unterstützend helfen? Wir haben nachgefragt bei Björn Keller, Psychotherapeut FSP bei Wepractice.
Die ganze Welt dreht sich ums Kranksein und um mögliche Krankheiten. Im Leben eines Hypochonders herrscht die pure Angst vor einer lebensbedrohlichen Erkrankung. Er ist gefangen in seiner Gefühlswelt und hat keine Möglichkeit mehr, sich mit anderen Themen zu befassen. Hypochonder trauen den Bildern und Aussagen ihres Arztes oder ihrer Ärztin oft nicht – sie suchen eine Zweit- und eine Drittmeinung. Wir nennen das «Doctor-Shopping». Ich möchte hier festhalten: Hypochonder sind nicht wehleidig, sondern sie leiden an einer psychosomatischen Erkrankung, die auf jeden Fall eine Behandlung erfordert.
Hypochondrie kann alle Menschen jeder Altersklasse treffen. Stressige Lebenssituationen wie Scheidungen, Verlust durch Tod oder Probleme am Arbeitsplatz sind Nährboden für Hyperempfindlichkeit. Hypochondrie kann jedoch auch im Kindesalter entstehen. Dort spielen die Eltern und deren Umgang mit möglichen Bedrohungen eine grosse Rolle. Überbehütete Kinder, welche vor sämtlichen Gefahren bewahrt und auf alle Eventualitäten aufmerksam gemacht werden, sind gefährdeter als jene, die sorglos und unbelastet aufwachsen können.
Die Lebensumstände sind entscheidend, ob ein Mensch in ein gesteigertes Kontrollverhalten verfällt. Corona war für hypochondrisch veranlagte Menschen eine Herausforderung. Das Desinfizieren der Hände und das Tragen von Masken haben uns allgegenwärtig mit der Gefahr einer möglichen Erkrankung konfrontiert. Je nach Nervengerüst kann das einen verstärkten Kontrollmechanismus ausgelöst haben. Dann gilt es, das Übel im Keim zu ersticken und mit einer gezielten Therapie gegen die Ängste anzugehen.
Hypochondrie entsteht in der Regel vor dem fünfzigsten Lebensjahr und fällt in den Anfangszeiten zuerst den nahen Familienangehörigen auf. Auch Hausärzte und -ärztinnen merken schnell, wenn eine übertriebene Angst vorhanden ist, welche nicht von einer physischen Erkrankung herrührt, sondern deren Ursprung in der Psyche zu suchen ist. Der logische nächste Schritt ist die Überweisung an einen Psychosomatiker oder eine Psychologin. Betroffene reagieren durch diesen Schritt oft konsterniert. Sie sind überzeugt, dass keine psychische Erkrankung vorliegt. In diesem Moment braucht es von uns Psychologen und Psychologinnen viel Einfühlungsvermögen und Fingerspitzengefühl, um zu erklären, dass eine psychische Erkrankung sich auch durch körperliche Symptome bemerkbar macht. Primäres Ziel der Behandlung ist, dass Betroffene erkennen und akzeptieren, dass ihre Beschwerden keine körperliche Erkrankung als Grund haben.
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Die Praxis zeigt, dass Depressionen oft einhergehen mit Hypochondrie. Depressionen bringen mit sich, dass man sich mehr Sorgen macht, die Welt und sich selbst negativ sieht und die Zukunft schwarzmalt. Doch was war zuerst, das Huhn oder das Ei? War zuerst die Depression da und oder entstand durch die Hilflosigkeit der unbefriedigenden Arztbesuche eine Depression? Folgeerscheinung von Depression und Hypochondrie ist oft die Einsamkeit, denn es braucht schon sehr viel Nachsicht im Umgang mit Betroffenen. Für mich ist es absolut nachvollziehbar, dass es nervt, wenn das einzige und zentrale Gesprächsthema mögliche Erkrankungen sind. Wichtig für Angehörige und Menschen aus dem Umfeld von Betroffenen ist, dass sie das Problem ansprechen – denn es ist ein Problem – und sich einer möglichen Konfrontation stellen. Wenn Verwandte und Bekannte das nicht machen, werden sie sich früher oder später zurückziehen, und die von Hypochondrie betroffene Person wird vereinsamen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es sich bewährt, der erkrankten Person bei einem Treffen ein Zeitkontingent von 15 Minuten zu gewähren, damit sie aktiv über ihre aktuellen Beschwerden sprechen kann.
Mit medikamentöser Behandlung werden vorwiegend Symptome, aber nicht die Ursache bekämpft. Eine Verhaltenstherapie hingegen setzt im Erleben und Verhalten an. Es gilt auch, einen gesunden Umgang mit Stresssituationen zu entwickeln und so das übertriebene Sicherheitsverhalten zu durchbrechen. Hypochondrie ist heilbar – je früher die Diagnose gestellt wird und die richtige Therapie zum Einsatz kommt, desto grösser ist die Chance, wieder ein unbeschwertes Leben zu führen.
Es ist eine Illusion zu glauben, dass man das Leben sicher machen kann – das Leben ist per se gefährlich. Der aktuell herrschende Zeitgeist, immer und überall alles dabei zu haben, um mögliche Gefahrenzonen sofort wieder verlassen zu können, entspricht einem übertriebenen Sicherheitsverhalten. Was nicht heisst, dass Allergiker und Allergikerinnen ihr Notfallset zuhause lassen oder Herzkranke entsprechende Medikamente nicht mit sich führen sollten. Das sind akute Situationen, die eine Vorsorge rechtfertigen. Uns wird jedoch vorgegaukelt, dass wir durch diese Tracker jederzeit alles im Griff haben. Menschen mit einem hypochondrischen Verhalten sollten die Hände von diesen Überwachungsmechanismen lassen. Zu Trainingszwecken kann eine Überwachung Sinn machen, aber auch da: Ist es nicht besser, auf den Körper zu hören und seine Grenzen zu erkennen? Hypochondrie beginnt schleichend, und wenn man tief in den unterschiedlichsten Sicherheitsmassnahmen drinsteckt, ist es enorm schwierig, wieder zurückzukrebsen.
Wenn Menschen mit Hypochondrie ihre selbst diagnostizierte Krankheit und die vorhandenen Beschwerden im Internet recherchieren, so finden sie schnell die Bestätigung, dass mit grösster Wahrscheinlichkeit eine lebensbedrohende Krankheit vorliegt. Deshalb rate ich von diesem Vorgehen ab. Wenn dennoch ein starker Drang nach Informationen besteht, empfehle ich meinen Patientinnen und Patienten, alle Fakten zu sammeln, die gegen eine schwere Erkrankung sprechen. So oder so ist es wichtig, die Erkenntnisse mit dem Arzt oder der Therapeutin zu besprechen.
Die Gesellschaft ist gegenüber Hypochondern gar nicht tolerant – überhaupt gehören Menschen mit einer psychischen Erkrankung zu der am stärksten stigmatisierten Personengruppe und haben einen schweren Stand. Durch die ständige Angst vor Krankheiten schränken Betroffene ihren Lebensradius massiv ein. Wegen ihrer geringen Belastbarkeit werden sie von der Gesellschaft geschont und müssen oft keine Verantwortung übernehmen – dies wiederum fördert Ängste vor dem Versagen und vor anspruchsvollen Lebenssituationen. Einer meiner Therapieansätze ist, diese Angst vor Krankheit und Tod zu thematisieren – oft mit der Erkenntnis, dass Betroffene nicht Angst vor dem Tod, sondern Angst vor dem Leben haben.