Im Alter von nur 52 Jahren ereilte Christina Imhof die niederschmetternde Diagnose: Alzheimer. Sie gilt damit als Frühbetroffene. Auf dem Hof Obergrüt in Ruswil LU findet die Luzernerin tageweise eine neue Aufgabe und neuen Lebenssinn.
Es ist ein lauer Wintertag. Die Sonne hat die Nebelschwaden, die am frühen Morgen noch über die Hügellandschaft hinwegzogen, schnell verschwinden lassen. Hühnergegacker ist zu hören. Eine Katze leckt den Staub von ihren Pfoten. Aus der Tür des stattlichen Bauernhauses tritt Christina Imhof mit Hund Benji. Sie hält die Leine fest in den Händen, tätschelt den Mischling kurz am Kopf, bevor sie aus dem Tor tritt. Die Krankheit, die ihr Gehirn befallen hat: Man sieht sie ihr nicht an. Doch die 52-Jährige leidet an Alzheimer, der verbreitetsten Form von Demenz. Die Diagnose ereilte die zweifache Mutter mitten im Leben.
Christina Imhof: «Ich hätte nie damit gerechnet. Für Alzheimer bin ich ja eigentlich noch zu jung. Mir ging es in der Vergangenheit oft nicht so gut. Ich war psychisch angeschlagen, merkte, dass mit mir etwas nicht stimmt. Ich vergass immer öfter die Namen guter Kollegen, musste meinen Mann fragen, wie sie heissen. Manchmal konnte ich mich auch nicht mehr an Gesprächsdetails und Abmachungen mit ihm erinnern. Die Krankheit kommt schleichend.»
Seit Herbst 2019 verbringt sie drei Tage pro Woche auf dem Hof Obergrüt im luzernischen Ruswil. Sie kommt morgens, abends holt ihr Mann sie ab. Auf dem Hof finden Menschen mit der Diagnose Demenz einen Platz und eine Aufgabe. Das Angebot ist schweizweit einzigartig. Betroffene im fortgeschrittenen Stadium verbringen hier eine Ferienwoche. Jung Erkrankte wie Imhof gehen einer sinnvollen Tätigkeit nach – sie erhalten ihre Diagnose meist weit vor dem Pensionsalter und können in der Folge ihrem Beruf oft nicht mehr nachgehen. Sie werden nicht mehr gebraucht und aussortiert wie verdorbene Ware.
«Ich vermisse es, gebraucht zu werden. Aber eine normale Arbeit würde mich überfordern. Deswegen ist es schön, auf dem Hof Tätigkeiten nachgehen zu können, die Sinn machen. Ich freue mich auf den Sommer, dann kann ich im Kräutergarten mithelfen.»
Hund Benji zieht die gelernte Chemielaborantin über Feldwege, es geht auf und ab, vorbei an grossen Gehöften und über weite Wiesen. Menschen mit Demenz entwickeln oft einen starken Bewegungsdrang. Auch Christina Imhof. Sie kümmert sich auf dem Hof gerne um Benji und geht zweimal am Tag mit ihm spazieren. Noch jedes Mal hat sie zum Hof zurückgefunden. Wäre die Krankheit bereits weiter fortgeschritten, würden ihr die Betreuerinnen ein GPS-Gerät mitgeben, um sie im Notfall aufspüren zu können.
«Wenn ich den Tag zu Hause verbringe, bin ich oft draussen unterwegs. Drei Stunden pro Tag. Das ist besser als unnütz herumzusitzen. Darum gehe ich auf dem Hof Obergrüt auch gerne mit Benji raus. Tiere erwarten nicht zu viel von einem. Wir hatten früher auch einen Hund, einen Australian Shepherd. Ich hätte jetzt auch gerne wieder einen, aber das würde ich wohl nicht mehr meistern. Dafür hat mein Mann zwei Bengalkatzen gekauft, Dino und Enzo.»
Mittag. Zum Essen gibt es Bratwurst, Kartoffeln und Gemüse. Zu zwölft sitzen sie zusammen: drei Betreuerinnen, sieben Feriengäste mit fortgeschrittener Demenz und zwei junge Tagesgäste – Christina Imhof und eine weitere Frau, die zwei Jahre älter ist als sie. Verstohlen beobachtet Christina Imhof ihre Tischnachbarn. Eine Frau mit weisser Kurzhaarfrisur unterhält die Runde. Sie ist weit über 80 und erzählt von ihrem Vater, der Ofenbauer war und im Krieg gekämpft hat. Er werde sie heute abholen, sagt sie.
«Meine Söhne sind 27 und 28 Jahre alt. Für sie ist es bestimmt schwer. Aber sie haben mich lieb und melden sich regelmässig bei mir. Ich bedauere sehr, dass ich meine beiden Enkelkinder nicht aktiver betreuen kann. Es wird mir schnell zu viel. An Weihnachten zum Beispiel musste ich mich schon gegen 20 Uhr in mein Zimmer zurückziehen.»
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Nach dem Essen verabschiedet sich Christina Imhof, um sich wie die meisten anderen kurz hinzulegen. Danach will sie Kräuter rüsten und zu den Hühnern gehen, um nachzusehen, ob sie Eier gelegt haben. Weil sich an Demenz erkrankte Menschen neue Namen nur schwer merken können, heissen alle Hühner Lena.
«Ich habe früher Klavier gespielt und Aquarelle gemalt. Das traue ich mir nicht mehr zu. Vor allem mit dem Klavier klappt es nicht mehr. Das macht mich traurig. Ich weiss nicht, wie meine Zukunft mit der Krankheit aussieht. Darüber denke ich nicht nach. Ich versuche, im Hier und Jetzt zu leben.»
Im Flur des Bauernhauses trifft Christina Imhof auf die zwei Jahre ältere Frau, die ebenfalls als Tagesgast da ist. Sie schluchzt, murmelt, dass sie nicht sterben wolle. Christina Imhof drückt sie fest an sich, hält ihre Hand, sagt, dass alles gut werde.
«Seit Kurzem besuche ich eine Selbsthilfegruppe für junge Menschen mit Demenz. Ich spreche aber eigentlich nicht gerne über die Krankheit, auch nicht mit anderen Betroffenen. Warum, weiss ich nicht.»
Am späteren Nachmittag kommt Urs Imhof auf den Hof, um seine Frau abzuholen. Der 54-Jährige ist Geschäftsführer dreier Firmen und beruflich eingespannt. Zur Begrüssung umarmen sie sich lange. Das Paar ist seit über 30 Jahren verheiratet, hat in Indien und Bangladesch gelebt.
Urs Imhof: «Der Weg zur Diagnose Alzheimer war schwer. Ich musste darum kämpfen, dass Christina in der Memory Clinic den Test machen konnte. Die Ärzte meinten, dass die Vergesslichkeit mit ihren Depressionen zusammenhängt. Meine Schwester ist Krankenpflegerin und meinte, dass wir Abklärungen bezüglich Demenz machen sollten. Ich habe vorher nie daran gedacht, dass sie daran leiden könnte.»
Krankenpflegerin Luzia Hafner betritt die Küche, begrüsst jeden «Gast», wie sie die Patienten nennt, persönlich. Vor 15 Jahren hatte sie die Idee, an Demenz erkrankte Menschen auf dem Hof, den sie damals mit ihrem Mann führte, zu betreuen. «Ich wusste, dass es zu wenig solche Angebote gibt, und es hat mich nicht mehr losgelassen.» Zu Recht. Die Nachfrage ist riesig. Deswegen plant die 53-Jährige einen Umzug in das ehemalige Kloster Rickenbach, um das Angebot fürjunge Menschen mit Demenz erweitern zu können. Geplant ist eine Wohngemeinschaft für sie. Luzia Hafner will zudem Arbeitsplätze schaffen, eine Cafeteria einrichten und weiterhin Tiere halten. Noch sei die Finanzierung allerdings nicht gesichert, sagt die ehemalige Bäuerin und streichelt Hofhund Benji über den Rücken.
«Auch wenn für uns mit der Diagnose der Tod nicht gleich vor der Tür steht, ist die Situation himmeltraurig. Ich liebe meine Frau. Ich schaue sie an und denke: Sie ist so schön, und ich will noch viele Dinge mit ihr erleben. Doch die Krankheit belastet die Beziehung. Meine Frau zieht sich zurück. Es ist schwierig, mit ihr den Alltag zu planen, geschweige denn Ferien. Im vergangenen Jahr wollten wir einen dreimonatigen Häusertausch mit einer Familie in Australien vornehmen. Doch Christina ging es zu schlecht. Es fühlt sich an, als wären wir in einem ruderlosen Boot auf dem offenen Meer unterwegs.»
Das Ehepaar macht sich auf den Heimweg. Sie werden zusammen kochen, sich um die zwei Katzen kümmern. Was die Krankheit in der Zukunft noch mit sich bringen wird, wissen sie nicht; wie lange Christina Imhof ihren Mann noch erkennen wird, kann ihnen niemand sagen.
Fotos: Herbert Zimmermann