Eigentlich sind sie schon im Pensionsalter. In den Ruhestand können und wollen sie aber noch nicht, denn dann würden ihre Patienten und Patientinnen plötzlich ohne Hausarzt dastehen. Wie können wir den Hausarztmangel angehen?
Am Donnerstagnachmittag öffnet Dr. Jean Luc Meyer in Jeans und Karo Hemd die Tür zu seiner Praxis. Heute Nachmittag hat er keine Sprechstunde, denn in der Regel besucht er zu dieser Zeit Patientinnen und Patienten zuhause oder im Altersheim. Seit 35 Jahren ist er Hausarzt in Wattwil SG und betreut viele Patienten und Patientinnen. «Ich mache meinen Job mit Herzblut», sagt er. Eigentlich wäre Meyer bereits seit drei Jahren pensioniert. Eigentlich. Denn obwohl der 68-Jährige seit einiger Zeit ans Aufhören denkt, findet er keinen Nachfolger. «Und meine Patienten im Stich lassen, das kann ich mir einfach nicht vorstellen.»
Damit ist Meyer nicht allein. Die neuste Statistik der Ärzteverbindung FMH zeigt: Insgesamt sind 4900 Ärzte berufstätig, obwohl sie bereits im Pensionsalter sind. Diese Ärzte sind im Gesundheitswesen wichtig, pro 1000 Einwohnerinnen und Einwohner ist ein Hausarzt empfohlen. Heute liegt die Anzahl aber nur bei 0,8 Hausärzten pro 1000 Einwohnern. Das Problem wird sich noch verschärfen, denn heute ist bereits jeder vierte Arzt 60 Jahre oder älter.
Für Meyer ist diese Entwicklung keine Überraschung. «Wir Ärzte und die Verbände warnen seit Jahren vor einem allgemeinen Ärztemangel.» Zu seiner Zeit hätten jeweils 1200 bis 1300 Personen pro Jahr das Medizinstudium abgeschlossen. Seit 1998 der Numerus Clausus, die Zulassungsbeschränkung für das Medizinstudium, eingeführt wurde, waren es nur noch 800 bis 900. Die Anzahl der Studienplätze wurde damals begrenzt, weil die sechsjährige Medizinausbildung sehr teuer ist und die Politik sparen wollte.
Dass es mit dieser Begrenzung irgendwann an Ärzten fehlt, hat das Parlament 2016 gemerkt und 100 Millionen Franken investiert. Mit dem Ziel: Bis 2025 sollen pro Jahr 1300 Studierende das Medizinstudium abschliessen. Heute ist man bei einer Zahl knapp über 1000 angekommen. «Aber das reicht leider nicht, um den Mangel auszugleichen», sagt Monika Reber, Vorstandsmitglied des Verbands Haus- und Kinderärzte. Sie fordert deshalb weitere Investitionen mit dem Ziel bis 2025 jährlich 500 Studienplätze zusätzlich anzubieten. Mit rund 1800 Absolventinnen und Absolventen können wir in Zukunft die medizinisch Grundversorgung sicherstellen und die Abhängigkeit vom Ausland reduzieren.
Nur dank der ausländischen Fachkräfte gibt es heute genügend Ärzte. In der Schweiz arbeiten so viele Ärzte mit einem ausländischen Diplom, wie nirgendwo in Europa. 2022 waren es fast 40 Prozent aller praktizierenden Ärzte, die meisten davon kamen aus Deutschland. «Das ist aber keine langfristige Lösung und nicht ethisch, wenn man den anderen Ländern die Ärzte wegnimmt», findet Meyer. Und unsere Nachbarländer merken allmählich auch, dass sie ihre ausgebildeten Fachkräfte mit besseren Arbeitsbedingungen im Land halten können. «Die hohe Auslandabhängigkeit ist für uns deshalb riskant», findet auch Reber vom Verband. Aber: die meisten der ausländischen Ärzte arbeitet im Spital und nur wenige davon als Hausarzt oder Hausärztin. Das heisst, den Hausärztemangel können wir auch heute mit den Ärzten aus dem Ausland nicht vollständig ausgleichen.
Auch Dr. Markus Bieri aus Langnau im Emmental (BE) sucht jemanden, der seine Hausarztpraxis übernimmt. Denn er wird im nächsten Jahr 65 Jahre alt und will sich zur Ruhe setzen. Heute wohnt er im Haus über seiner Praxis und versorgt seit 26 Jahren Patienten und Patientinnen aus dem ganzen Tal. «Als ich mein Medizin-Studium begann, warnten mich viele davor. Es gäbe schon zu viele Ärzte», erinnert er sich. Trotzdem wurde er von Patientinnen und Patienten überrannt, als er seine Praxis übernahm. «Ich konnte schon nach sechs Jahren keine neuen Patientinnen und Patienten mehr aufnehmen und habe seither jeden Tag von 7 Uhr morgens bis nach 21 Uhr gearbeitet, um allen gerecht zu werden.»
Noch vor 1990 war es schwierig, eine Praxis zu finden. Damals mussten junge Ärzte gut und gerne 100'000 Franken bezahlen, um eine Praxis samt deren Patienten übernehmen zu können. Heute könne man sich das fast nicht mehr vorstellen. Bieri würde seine Praxiseinrichtung, alle medizinischen Geräte und seine Patienten einem geeigneten Nachfolger gratis weitergeben, wenn sich denn nur einer finden liesse. Bis jetzt hätten sich nur anonyme Agenturen aus dem Ausland oder vereinzelt ungeeignete Ärzte und Ärztinnen gemeldet. «Aber ich will meine Praxis nicht irgendjemandem übergeben. Dann mache ich lieber zu», sagt Bieri.
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Aber will denn heute in der Schweiz niemand mehr Hausarzt oder Hausärztin werden? Nina Mäder (30) hat ihr Medizinstudium in Bern begonnen mit der Idee eine eigene Praxis zu eröffnen. Heute ist sie im dritten von fünf Assistenzjahren und ist von ihren Plänen etwas abgekommen. «Ich arbeite zurzeit in der Notaufnahme eines Spitals und die Teamarbeit gefällt mir sehr gut. Direkt nach der Facharzt-Ausbildung allein eine Praxis zu führen, kann ich mir deshalb fast nicht mehr vorstellen», sagt sie. Zudem würden die Ansprüche der Patientinnen und Patienten an die Ärzte immer grösser, jeder kann sich über Google informieren. «Bevor ich nicht noch ein paar Jahre Arbeitserfahrung gesammelt habe, traue ich mir die Stelle als Hausärztin einfach nicht zu.»
Diesen Punkt kann Hausarzt Bieri aus dem Emmental gut verstehen. «Wenn ein Patient mit Husten in meine Praxis kommt, kann ich nicht bei jedem alle Untersuchungen anordnen, um zum Beispiel Krebs auszuschliessen. Da muss ich auf meine Erfahrung setzen und mit Wahrscheinlichkeiten rechnen.» Es sei deshalb auch schon vorgekommen, dass er eine schwere Krankheit spät oder sogar zu spät erkannt habe. «Das ist nicht einfach und man muss das aushalten können», sagt er. Sind die Jungen denn nicht selbstbewusst genug für diesen Beruf? «Als Hausarzt muss man auch den Anfang wagen und in seine Aufgabe hineinwachsen», findet Bieri. Und ganz allein sei man in einer Praxis ja nicht. Wenn er selber nicht mehr weiter weiss oder spürt, dass der Patient nicht zufrieden ist, gibt es immer die Möglichkeit einer spezialärztlichen Weiterweisung oder einer kollegialen Rücksprache.
Für die junge Ärztin Nina Mäder gibt es noch eine andere Lösung: Eine Anstellung in einer Gruppenpraxis. «Da kann man sich mit Kollegen austauschen und die Verantwortung, aber auch die Arbeitszeiten aufteilen», sagt sie. Die langen Arbeitszeiten sind nämlich ein weiteres Problem. Viele junge Ärztinnen und Ärzte wollen nicht mehr 100 Prozent arbeiten. Auch, weil immer mehr Frauen diesen Beruf ausüben und daneben eine Familie haben. Laut der Statistik des Ärzteverbands FMH aus dem Jahr 2022 arbeiteten die Ärzte durchschnittlich noch 47,7 Stunden pro Woche. Ein 100 Prozent Pensum als Arzt würde aber 55 Stunden pro Woche entsprechen. «Das geht einfach nicht auf. Um einen abtretenden Hausarzt zu ersetzen, reicht ein Nachfolger nicht mehr», sagt Jean Luc Meyer aus Wattwil.
Bis mehr Ärztinnen und Ärzte ausgebildet werden, arbeitet die Gesundheitsanbieterin Medbase an einem weiteren Lösungsansatz: Am Pilotstandort im Medical Center Winterthur Neuwiesen werden sogenannte Advanced Practice Nurse (APN) ergänzend eingesetzt.
Das sind Pflege-Experten und -Expertinnen mit einem Master-Abschluss. Sie können zum einem erweiterte pflegerische Tätigkeiten übernehmen, zum andern auch Aufgaben, die die Ärzte an sie delegieren. Dazu gehören etwa die Behandlung von einfachen Harnweginfektion, Husten, Schnupfen, oder auch das Wechseln von Wundverbänden. Oder die Versorgung von chronisch kranken Patienten und Patientinnen.
Die Projektverantwortliche Isabelle Mathier arbeitet als Leitende APN am Pilotstandort in Winterthur. «Wir arbeiten eng mit den Ärzten zusammen und können sie so gezielt entlasten», sagt Matheir. Bis heute gibt es laut Verband für Kinder- und Hausärzte insgesamt rund 30 APNs in verschiedenen Praxen in der ganzen Schweiz. Diese Lösung findet auch Monika Reber vom Verband für Kinder- und Hausärzte gut. «Aber leider fehlt in allen Bereichen des Gesundheitswesens das Fachpersonal. Wir können also langfristig nicht nur auf genügend gut ausgebildete Pflegekräfte oder medizinische Praxisassistentinnen oder Praxiskoordinatorinnen setzen, ohne dass auch mehr Ärzte ausgebildet werden.»
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Dr. Jean Luc Meyer aus Wattwil hat nun einen neuen Plan, um seine Nachfolge zu regeln. Im Sommer 2024 wird er im ehemaligen Spital Wattwil mit dem ärzteeigenen Netzwerkes Xundart eine Hausarzt-Gruppenpraxis eröffnen. «Mit einer orthopädischen Klinik, der 24 Stunden offenen Notfallstation und weiteren Spezialärzten in der gleichen Liegenschaft, entsteht ein attraktives Umfeld für junge Hausärztinnen und Hausärzte», sagt Meyer. Er wird zu Beginn mitarbeiten und hofft, dass möglichst bald weitere Ärztinnen und Ärzte dazu stossen und ihn ablösen können.