Das Tessin ist eine herrliche Wandergegend – mit Steigungen, Aussichten und Tophütten. Typisch Ticino: Der Gaumenschmaus ist fester Bestandteil der Wanderung.
Wo nur sind die Bäume geblieben? Der Monte Bar jedenfalls hat kaum einen. Sein Nachbar, der Caval Drossa, ist ebenso kahl. Im 19. Jahrhundert wurden im Val Colla im Hinterland von Lugano die Wälder unkontrolliert geschlagen. Mit dem Verkauf von Holz und dem Gewinn von Weideflächen wollten die Talbewohner dem Hunger begegnen. Die knappen Zeiten sind vorbei, doch die Wälder sind nicht zurückgekehrt. So erlebt man auf dem Monte Bar ein gewisses Mond-Gefühl, während sich rundherum ein Panorama vom Feinsten zeigt: Luganersee, Poebene und am Horizont die Walliser Bergriesen. Dazu gibt es viel einsame Bergwelt und auf dem Passo di San Lucio eine monumentale Kapelle, wo seit Jahrhunderten Älpler aus der Schweiz und Italien den Schutzpatron der Sennen und Senninnen verehren. Nicht minder monumental ist die neue Capanna Monte Bar, die wie ein Adlerhorst über dem Lichtermeer von Lugano wacht.
Das Matterhorn im Tessin – ja, das gibt es. Es heisst Pizzo di Claro, liegt zwischen Bellinzona und Biasca und ragt stolze 2700 Meter in den Himmel. Seine Trapezform hat ihm den Spitznamen Matterhorn von Bellinzona eingebracht, berühmt geworden ist es durch den Berglauf „Claro Pizzo“. Alljährlich messen sich um die 160 Läuferinnen und Läufer am Berg, die schnellsten benötigen für die 9,2 Kilometer lange Strecke und 2500 Höhenmeter Aufstieg gut eineinhalb Stunden. Eine normale Bergtour dauert etwas länger und schliesst eine Nacht in den urgemütlichen, ehemaligen Alphütten der Capanna Brogoldone ein. 1600 Meter oberhalb von Bellinzona ist die Sicht aufs Lichtermeer unvergesslich. Und egal ob man am zweiten Tag auf dem Weg ins bündnerische Val Calanca den Pizzo di Claro mitnimmt oder nicht – die vielen Höhenmeter machen sich noch Tage später in den Beinen bemerkbar.
Schönheiten muss man sich verdienen, im Tessin mit vielen Höhenmetern und Schweisstropfen. Der Lago d’Alzasca gilt als einer der schönsten Bergseen des Tessins, mit türkisblauem Wasser, kitschig-grünen Mooren, knorrigen Lärchen und einem Kranz markiger Berge rundherum. Die urgemütliche Capanna Alzasca wiederum ist bekannt für exzellentes Essen, liebevoll zubereitet von Freiwilligen, die der kleinen Küche manche Köstlichkeit entlocken. Und ja – Hunger bringen alle mit, die den Aufstieg von Someo im Maggiatal zur Capanna Alzasca bewältigen. Gut 1400 Höhenmeter bergauf, die Hälfte davon über kühn angelegte Treppenanlagen und Steinbrücken. Sie zeugen von der einstigen Wichtigkeit der Bergweiden, auf welchen die Menschen ihr Vieh sömmerten. Die meisten Alpen sind verschwunden – geblieben ist jene von Soladino, wo man von einer Schar Ziegen, Hühnern, Schweinen und Esel begrüsst wird.
Zum Glück hat der SAC Tessin nicht aufgegeben. Zwei Mal zogen Lawinen die alte Capanna Cristallina in Mitleidenschaft. 1986 wurde die Hütte schwer beschädigt und wieder aufgebaut, dreizehn Jahre später machte wiederum eine Lawine den Bau dem Erdboden gleich. Die neue Hütte, ein stattlicher Holzbau mit 120 Schlafplätzen, steht deshalb direkt auf dem 2572 Meter hohen Cristallinapass – lawinensicher und mit bester Aussicht auf die vielen Stauseen zwischen dem Val Bedretto und dem Val Bavona, auf die Gletscher des Bassodino, auf eine der grössten Steinbockkolonien im Tessin und auf die raue Landschaft aus kristallinem Gestein. Diese hat übrigens eine militärische Vergangenheit: Aus Furcht, die Faschisten könnten ins Gotthardgebiet einfallen, wurden zahlreiche Schutz- und Unterkunftsanlagen gebaut. Eine davon ist das heutige Rifugio Camosci direkt unter dem Gipfel des Cristallina.
Viel ist von der ehemaligen Seilbahn nicht übriggeblieben. Ein paar Fundamente zeugen noch von den riesigen Stützen, welche die schweren Lasten tragen mussten. Die Rede ist von der Seilbahn über den Passo Campolungo, dem Pass zwischen Leventina und oberem Maggiatal. Sie wurde errichtet, um die Staumauer des Lago di Sambuco oberhalb von Fusio zu bauen. Sogar zwei ausrangierte Züri-Trams fanden mit der Seilbahn den Weg über den Passo Campolungo auf die Grossbaustelle. Sie dienten dazu, den Beton auf der Staumauer zu verteilen. Seine zweite Spezialität ist dem Passo Campolungo indes geblieben: schneeweisses Zuckergestein, ausgesprochen bröseliger Dolomit, der Jahr für Jahr von Mineralogen aus aller Welt besucht und untersucht wird. Auf diesem Untergrund zu wandern ist ein Erlebnis – auch ohne naturwissenschaftlichen Hintergrund.
«Wo führt das bloss hin?», fragt man sich auf der Fahrt von Locarno nach Spruga. Kurve reiht sich an Kurve, das Strässchen ist eng, der Abgrund tief. Der Wald und die Berge scheinen übermächtig, während der Mensch dazwischen verschwindet. Im Valle Onsernone regieren Wildnis und Abgeschiedenheit. Das hat manchen Aussteiger angelockt, um ein selbstbestimmtes Leben im Einklang mit der Natur zu führen. Viele sind wieder gegangen, ein paar sind geblieben. Dank ihnen gibt es in Spruga noch einen urigen Laden, prall gefüllt mit Bio-Lebensmitteln, und auf dem Weg zur Capanna Salei begegnet einem manch weiteres Projekt, das von einem alternativen Leben zeugt. Dazu gesellt sich die einzigartige Landschaft, geprägt von verlassenen Alpen, knorrigen Wäldern, farbigen Mooren und einem kleinen, lauschigen Bergsee. Schafft man gar den Gipfel des Pilone, ist am Horizont der Lago Maggiore auszumachen – mitsamt seinem Häusermeer, einem Gruss aus der Zivilisation.
Piora. Der Name liess die Erbauer des Gotthard-Basistunnels erschauern. Die so genannte Pioramulde besteht aus schneeweissem, bröseligem Dolomitgestein. Beinahe wäre der längste Eisenbahntunnel der Welt ihr zum Opfer gefallen. Dabei ist das Val Piora so schön und einzigartig. Nicht nur wegen des Dolomitgesteins, das einem zum Beispiel am Lago di Tom begegnet. Am tiefblauen Wasser hat es einen kleinen Strand hingelegt, der es fast mit jedem in der Karibik aufnimmt. Einzigartig sind auch die vielen Seen im Val Piora. Knapp zehn Stück sind es. Die meisten sind Naturseen, der grosse Lago Ritom produziert fleissig Strom – für die Gotthardbahn, damit die Züge durch den 57 Kilometer langen Basistunnel brausen können, direkt unter der Pioramulde hindurch. Vom einsamen Gipfel des Föisc überblickt man das Tal wie von einem Balkon.
Das Rifugio Scaradra ist eine dieser wildromantischen Hütten, wie es sie nur noch im Tessin gibt. Klein, gemütlich, mit viel Herzblut hergerichtet und ohne Hüttenwart. Gekocht wird selber auf dem Holzofen, das Essen bringt man mit. Und das Rifugio Scaradra liegt einzigartig. Das wilde Val Scaradra hat ihm den Namen gegeben. Ein langes und steiles Tal, auf drei Seiten umgeben von mächtigen Bergen, zwischen denen Wetter mächtig toben kann, wie Einträge im Hüttenbuch erzählen. Noch eindrücklicher als die Landschaft ist ihre Geschichte. Während Jahrhunderten zogen Bauern aus dem oberen Bleniotal mit ihren Tieren durchs Val Scaradra und über den Passo Soreda, um auf der fruchtbaren Bündner Lampertschalp oberhalb von Vals den Sommer zu verbringen. Der Passo Soreda ist 2759 Meter hoch, ausgesprochen steil und gespickt mit anspruchsvollen Passagen. Quert man ihn am zweiten Tag, empfindet man Ehrfurcht für die Leistung der Bauersleute.
Sie muten schon etwas skurril an, die vielen schwarzen Felsbrocken rund um den Passo di Gana Negra. Wie in einer Kulisse sind sie angeordnet, mit ihrer dunklen Farbe verleihen sie der Landschaft einen eigenartigen Kontrast. Das Schwarz rührt vom Grafit, den die Felsbrocken enthalten. Gekommen sind sie vor Jahrhunderten mit einem Felssturz vom dreitausend Meter hohen Pizzo del Corvo, der über der Alpe di Bovarina wacht. Die einsame, langgezogene Alp lädt ein zum Abschalten und Geniessen, schliesslich fordert der steile Aufstieg vom Pro-Natura-Zentrum an der Lukmanier-Passstrasse auf den Passo di Gana Negra einiges an Kraft. Dafür streift man zu Beginn mit dem Selvasecca einen einzigartigen Lärchen-Arven-Wald und lässt sich vom munteren Plätschern des Brenno del Lucomagno verzaubern. Das darf man auch am zweiten Tag, in den verwunschenen, steilen Wäldern zwischen Cantonill und Campo. Schön, ist das hinterste Bleniotal ein wildes Kleinod geblieben.
Patriziate sind eine Tessiner Eigenheit. Ihnen gehören viele Wälder und Alpen im Südkanton. Diese entwickeln und bewirtschaften die Patriziate zum Wohl von Bevölkerung und Natur, um die Geschichte zu bewahren und sie für die Zukunft zu erhalten. Auf der Alpe Spluga im unteren Maggiatal kommen Wandernde in den Genuss der Leistungen eines Patriziats, demjenigen von Giumaglio. Über 100 Menschen leisteten 3500 Stunden freiwillige Arbeit, um drei der alten Alpgebäude zur gemütlichen Selbstversorgerunterkunft umzubauen, samt Dusche, WC, Vorratsraum, Küche, Terrasse und Schlafraum. Der Weg von Giumaglio zur Alpe Spluga ist lang und steil. Er macht erlebbar, unter welch harten Bedingungen die Bauern während Jahrhunderten im Tessin Landwirtschaft betrieben und jede noch so hoch gelegene Alp nutzten. Belohnt wurden sie auf der Alpe Spluga mit einer einzigartigen Aussicht auf das Maggiatal und den Lago Maggiore – so wie heute die Wandernden.
50 Berge über 3000 Meter Höhe zählt das Tessin. Die meisten teilt es mit seinen Nachbarn, der Campo Tencia indes liegt ausschliesslich auf Tessiner Boden. Mit seinen 3072 Metern kommt ihm die Ehre zu, der höchste, komplette Tessiner zu sein. Da braucht es eine Hütte an seinem Fuss, von der aus man seine Besteigung angehen kann. 1867 gelang dies zum ersten Mal, 1912 öffnete sodann die Capanna Campo Tencia ihre Türen, als erste Berghütte in den Tessiner Alpen. Heute beherbergt sie längst nicht mehr nur Gipfelstürmer. Ihre Lage zuhinterst im romantischen Val Piumogno mit seinem munteren Bergbach und den alten Wäldern, die Nähe zum Lago di Morghirolo, die ausgezeichnete Küche mit regionalen Spezialitäten und die Aussicht auf die Tessiner Bergwelt ziehen immer mehr Wandernde in ihren Bann. Der Blick reicht übrigens bis zu den Gletschern der 3402 Meter hohen Adula, dem anderen höchsten Berg im Tessin. Deren Gipfel teilt man sich mit Graubünden. Und die sagen dem Berg Rheinwaldhorn.
Vielen Deutschschweizern ist bereits das Bleniotal unbekannnt, das den Lukmanierpass mit der Leventina verbindet, dem Haupttal des Tessins. Noch viel mehr gilt das für das Valle Malvaglia, einem Seitental des Bleniotals. Dabei ist dieses langgezogene Tal von einzigartiger Schönheit und noch weitgehend intakt. Es zieht sich von Malvaglia bis hinauf an den Fuss des Rheinwaldhorns und überwindet dabei 1800 Höhenmeter. Seine fünf Dörfer zeugen von einer reichen Vergangenheit. Die ältesten Bauten datieren aus dem 14. Jahrhundert, und bis Mitte des 20. Jahrhunderts war das Valle Malvaglia ganzjährig bewohnt. Rund 180 Menschen lebten hier, sie unterhielten Kirchen, eine Schule und eine vielgestaltige Alpwirtschaft. Die Schönheit und Einzigartigkeit des Val Malvaglia erfährt man auf einer Wanderung zur Capanna Quarnei, die mit ihrer spannenden Architektur die Sprache der Berge aufnimmt und mit ihren Baumaterialen Stein und Holz an die traditionelle Bauweise des Tals anknüpft.