Für ihre Leidenschaft Curling kündigte Silvana Tirinzoni ihren Job bei der Bank und setzte alles auf eine Karte. Der Erfolg gibt ihr recht. Die Schweizer Curlerinnen sind Weltklasse.
«Calgary war das Highlight meiner sportlichen Karriere», sagt Silvana Tirinzoni, Skip der Schweizer Erfolgscurlerinnen. Ihre Stimmlage wird am Telefon passend zum freudigen Rückblick ein wenig höher. Sie holte 2021 an der WM in Kanada den zweiten WM-Titel. Die eigentliche Sensation dieser WM war jedoch die «Achterhütte» der Schweizerinnen − wie Silvana es kurz und bündig nennt − im vierten Spiel gegen Dänemark. Ein historisches Ereignis, das es zuvor an einer WM noch nie gegeben hatte! Bei einem so genannten Achterhaus liegen alle acht Steine eines Teams näher am Zentrum als die Steine des Gegners. Es ist noch viel seltener, als wenn eine Golferin mit einem Abschlag ein «Hole in one» zustande bringt − direkt das Loch trifft.
Typischerweise für sie macht sie kein grosses Tamtam daraus und lenkt aufs Team: «In dieser Bubble brauchte es Charakter von jeder, um eine Topleistung abzurufen.» Damals – während dem Corona-Lockdown – hausten die Schweizerinnen isoliert auf engem Raum vier Wochen im Hotel und feierten auch den WM-Titel nur unter sich, doch in Partystimmung, im Hotelzimmer. Silvana umschreibt es so: «Wir haben angestossen, gesungen und getanzt und die Hotelzimmertüre offen gelassen, aber das Corona-Protokoll lies keine Partygäste zu, um mit uns zu feiern.» Unterdessen haben die Frauen rund um Tirinzoni auch die WM 2023 gewonnen, die vierte in Folge.
Bald steht im Winter Olympia 2026 in Cortina d’Ampezzo und Mailand an. Da möchte Silvana mit ihrem Team unbedingt die Goldmedaille holen und die offene Rechnung von Olympia 2022 begleichen. Ihr grosses Ziel damals war der Olympiasieg, für den sie alles andere opferte.
Sie kündigte für die Vorbereitung ihren Bankenjob im Bereich Finanzanalysen und Vermögensverwaltung. Zuletzt arbeitete die studierte Betriebswissenschaftlerin bei der Migros Bank. Danach liess sie ihr altes Leben hinter sich und zog in eine Wohngemeinschaft mit einer ehemaligen Schulkollegin. Nur so konnte sie sich den Tausch vom gut bezahlten Job zu ihrer Leidenschaft leisten. Die heute 44-Jährige gehörte schon damals zu den weltweit besten Curlerinnen. Dennoch: «Ein Leben in Saus und Braus lag und liegt nicht drin.»
Ihre Job-Kündigung 2019 fiel ausgerechnet in die Corona-Zeit und den Lockdown ohne Wettkämpfe. Weil sie ihrer Mitbewohnerin den Ausgang nicht verbieten, aber auf keinen Fall mit Corona infiziert werden wollte, tauschte sie vor den Olympischen Spielen 2022 die WG gegen ein AirBnB, wo sie für eine Weile alleine lebte.
Dann kam die grosse Enttäuschung: Kein Finalplatz für die Schweiz, und auch das Spiel um Olympia-Bronze ging 2022 verloren. Viele Worte will sie darüber nicht verlieren: «Wir waren einfach nicht gut genug», sagt sie trocken. In Erinnerung bleibt das Spiel gegen Japan um den Finaleinzug: «Eine extrem bittere Niederlage, die nicht hätte passieren dürfen.» Vier Jahre Arbeit mit ihren Teamkolleginnen des CC Aarau waren verpufft. Trotz diesem Rückschlag ist sie mit ihrem Leben als Vollblutcurlerin mehr als zufrieden: «Ich bereue nichts.»¨
(Fortsetzung weiter unten…)
Begonnen hat diese Leidenschaft, als sie 10 Jahre war. «Als ich damals zum ersten Mal einen Stein gespielt hatte, wusste ich sofort, dass Curling meine Sportart ist», sagt sie. Kein Interesse an Pferden, wie viele andere Mädchen, oder an anderen Sportarten: Nein, es war der 20 Kilogramm schwere Stein, der sie faszinierte. Das kam nicht aus dem heiteren Himmel: Dank ihrem Vater, den sie oft zu seinen Spielen begleitete, lernte sie Curling kennen und lieben. Die Jugendliebe hält: «Nach all den Jahren bin ich noch immer mit dem Virus infiziert.»
120 Tage pro Jahr ist das Team während der Saison zusammen unterwegs und fast täglich auf dem Eis. Da brauche es gegenseitige Sympathie und auch mal einen witzigen Spruch. «Wir sind fast eine Familie. Ich kenne die Teamkolleginnen besser als meine Schwester.» Der Mix verschiedener Charaktere im Team macht es aus. «Ich bin eher introvertiert, deshalb ist es wichtig, auch extrovertierte Menschen um mich zu haben», sagt Tirinzoni und bestätigt damit, was andere über sie sagen: Sie sei selbstreflektiert, humorvoll, visionär und ehrgeizig. Mit Sprüchen und lockerer Stimmung alleine ist es natürlich nicht getan. Es fallen zahlreiche andere Aufgaben an, die das Team ohne Manager und Helfer selber meistert. Von der aufwändigen Administration über Finanzen und Sponsorensuche bis hin zu Medienarbeit und Social Media − alles wird im Team aufgeteilt. Dafür brauche es Teamfähigkeit, das gleiche Ziel und Commitment jeder Einzelnen. «Bei uns ist jede Chefin – einfach in einem jeweils anderen Bereich.»
Nach der gewonnenen WM 2023 gabs einen Wechsel im Team, der für Aufregung in den Medien sorgte. Typisch für Silvana: Sie übernahm Verantwortung und stellte sich den Fragen, obwohl sie sich dafür in den unbeliebten Mittelpunkt stellen musste. Die Aufregung kann sie nicht ganz nachvollziehen. «Wechsel sind in jedem Sportteam üblich», sagt sie dazu in ihrer bodenständig-lakonischen Art. Dass Curling dank den Erfolgen der Schweizerinnen immer mehr ins Rampenlicht rückt und an Popularität gewinnt, freut sie allerdings. Sie sei auch schon auf der Strasse angesprochen worden. «Ich bin aber auch froh um meine Privatsphäre, die beispielsweise ein Roger Federer nicht hat.»
Im Spiel selbst sind Strategie und Taktik bei ihr. Wie einen Stein spielen? Mit Risiko oder auf Sicherheit? Je mehr Können vorhanden ist, desto frecher kann ein Stein gespielt werden. Aber auch die Fähigkeiten und Taktik der Gegnerinnen beeinflussen den Entscheid. Das sei das Faszinierende: «Kein End ist gleich, man muss sich immer wieder der Situation und den Eisverhältnissen anpassen.»
Im Winterhalbjahr trainieren die Frauen auf dem Eis des CC Aarau oder in Biel. Zwei Sessions auf dem Eis, dazu noch Fitness- und Krafttraining. Etwa 20 Stunden kommen da pro Woche zusammen.
Ihre Kolleginnen arbeiten daneben noch mit kleinen Teilzeitpensen oder verlängern ihr Studium, Silvana Tirinzoni ist die Einzige, die alles auf die Karte Curling setzt. «Ich will mich verbessern, gebe mich selten damit zufrieden, was ist, versuche, ‘out oft the box’ zu denken. Dranbleiben und immer besser werden.» Dafür arbeitet sie auch seit einiger Zeit wie das ganze Team mit einem Mentaltrainer.
Catastrophing hat es ihr besonders angetan. Dabei konzentriert man sich darauf, was geschehen muss, damit man verliert. Gedanken wie «Ich kann das nicht, der Gegner ist viel besser» oder «ich schaffe es nicht, wenn es drauf ankommt» gilt es aufzulisten. Was auf den ersten Blick paradox klingt, hat einen ähnlichen Effekt wie das Tagebuchführen. Steht erst mal alles schriftlich da, verliert es an Bedrohungspotenzial.
Freizeit, um mit Familie, Freundinnen oder ihrem Freund auszugehen oder Ferien zu machen, gibts jeweils im Mai und Juni. «Wir sagen im Team ‘tschüss zäme’ und halten Kontakt per WhatsApp oder Mail», erzählt Silvana. Dann hat sie auch ausgiebig Zeit fürs Golfen, das sie seit vier Jahren als Ausgleich zum Curlen betreibt.
(Fortsetzung weiter unten…)
Locker bleiben und «nicht zu viel denken» ist auch das Motto für Olympia 2026. «Wir machen weiter wie bis anhin. Nur weil Olympische Spiele anstehen, muss man nicht alles umstellen. Wir machen vieles richtig.» Auch wenn der Traum von Olympischem Gold ein sehr hoch gestecktes Ziel ist. Sie weiss, dass sie das mir ihrem Team erreichen kann. Dabei hilft auch eine ihrer Stärken − nicht stehen zu bleiben.