Auch bei Männern kann zuweilen etwas Urin in die Hose gehen. Wie häufig kommt Harninkontinenz bei ihnen vor? Unser Experte hat die Antworten auf diese und andere Fragen.
Eric Schneider, Facharzt für Innere Medizin: Wahrscheinlich leidet etwa jeder vierte Mann ab 65 manchmal an Inkontinenz. Genaue Zahlen sind aber nicht bekannt. Wegen Schamgefühlen nimmt weniger als die Hälfte ärztliche Hilfe in Anspruch.
Wieso verlieren Männer Urin?
Am häufigsten liegt das Problem bei einer unvollständigen Entleerung der Blase aufgrund von Veränderungen der Prostata. Die Drüse liegt rund um die Harnröhre. Wenn sie sich mit zunehmendem Alter vergrössert, kann sie diese einengen. Man spricht von einer Drang- oder Überlaufinkontinenz: Der ständige Urin-Stau kann zu einer Schwächung und Überdehnung des Blasenmuskels führen. Es kommt zu einem stetigen Tröpfeln und Betroffene verspüren häufig einen plötzlichen, fast unkontrollierbaren Harndrang.
Gibt es noch andere Ursachen?
Die Belastungsinkontinenz, die bei Frauen nach Schwangerschaften und Geburten häufig auftritt, gibt es auch bei Männern, jedoch seltener. Es handelt sich um eine Schwächung des Beckenbodens, was vor allem beim Husten, Niesen, Lachen und Heben von schweren Lasten zu Urinverlust in kleinen Mengen führen kann. Weitere Formen sind die Reizblase, die durch Harnwegsinfektionen, Blasensteine oder Zysten entstehen kann, sowie die Reflex-Inkontinenz bei Verletzungen des Gehirns oder Rückenmarks.
Gefürchtet sind auch Prostata-Operationen.
Früher wurden dabei häufig die Nerven verletzt, was zu Inkontinenz führte. Doch heute sind diese Eingriffe präziser geworden. Das Risiko für Harninkontinenz ist mittlerweile deutlich kleiner. Wer kurz nach der Operation dennoch Mühe hat, den Urin zu halten, kriegt die Situation mit Beckenbodentraining meist innerhalb eines Jahres wieder gut in den Griff.
Wenn man die Blase nicht mehr kontrollieren kann, bleibt wohl nur der Griff zu Einlagen – wie bei Kleinkindern.
Das empfinden die meisten als äusserst entwürdigend und sollte deshalb nur vorübergehend zur Anwendung kommen. Oder als letztes Mittel, wenn andere Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Es stehen diverse Methoden zur Verfügung, die das Problem bei fast neun von zehn Männern beheben oder zumindest deutlich verbessern können.
Wie sieht so eine Behandlung aus?
Das kommt ganz auf die Ursache und Form an. Deshalb braucht es zuerst eine gründliche Untersuchung. Bei einer gutartigen Prostatavergrösserung kann man es zum Beispiel mit Sägepalmenextrakt versuchen – ein pflanzliches Mittel, das den Druck auf die Harnröhre abschwächt. Hilft das zu wenig, stehen Medikamente zur Verfügung. Andere Arzneimittel helfen bei einer Entzündung der Prostata – ebenfalls ein häufiger Grund für Dranginkontinenz. Weitere Medikamente vermögen eine hyperaktive Blase zu beruhigen oder den Tonus des Schliessmuskels zu erhöhen. (Lesen Sie unten weiter...)
Gibt es auch nicht-medikamentöse Therapien?
Bei der Belastungsinkontinenz ist Beckenbodentraining angezeigt. Es gibt Anleitungen im Internet oder man kann es sich von einer spezialisierten Physiotherapeutin zeigen lassen. Elektrostimulation und Biofeedback helfen, es richtig zu erlernen.
Viele Betroffene schränken wohl ihren Flüssigkeitskonsum stark ein. Ist das eine gute Idee?
Das ist nur zwei bis drei Stunden vor dem Schlafengehen sinnvoll. Ansonsten reizt der konzentrierte Urin die Blase zusätzlich und Bakterien können sich besser vermehren. Wenn man zu wenig trinkt, steigt zudem die Gefahr für Verstopfung. Dies verstärkt den Druck im Bauchraum und somit auch auf die Blase. Bewegung, ballaststoffreiche Ernährung und kein Übergewicht sind deshalb bei Inkontinenz-Problemen besonders wichtig.
Sollte man öfters prophylaktisch auf die Toilette gehen, damit sich die Blase gar nicht zu stark füllt?
Wenn man die Blase zu häufig entleert, kann sie schrumpfen. Damit erreicht man das Gegenteil des Erwünschten. Manche Betroffene sind so verunsichert, dass sie alle halbe Stunde auf die Toilette gehen und nur noch auf dieses Problem fokussiert sind. Mit einem sogenannten Miktionstraining, bei dem man die Toilettengänge aufzeichnet, kann man die Intervalle wieder ausdehnen. Bei einer Dranginkontinenz sollte man sich auf der Toilette Zeit lassen und mit der Hand auf den Bauch drücken, um die Blase möglichst vollständig zu entleeren.
Haben Sie weitere Tipps für Betroffene?
Es hilft, wenn man unterwegs stets im Voraus schaut, wo es eine Toilette gibt und sich im Restaurant in der Nähe platziert. Klett- und Reissverschlüsse an den Hosen kann man schneller öffnen als Knöpfe. Wichtig ist aber vor allem, dass man sich traut, beim Arzt über Inkontinenz-Probleme zu sprechen.
Was für Erfahrungen machen Sie in Ihrer Praxis mit dem Tabu-Thema?
Häufig komme ich dem Problem nur auf Umwegen auf die Spur. Die Patienten sprechen zum Beispiel über Müdigkeit und Schlafstörungen. Erst wenn ich nachfrage, räumen sie ein, dass es der Harndrang ist, der sie nachts mehrmals zum Aufstehen zwingt.