Das Gehör ist der am meisten unterschätzte Sinn des Menschen. Es nimmt rund um die Uhr wahr, was geschieht. Tag und Nacht. Anhand der Stimme eines Menschen etwa können wir hören, woran er psychisch oder physisch leidet. Zwei Experten geben Einblick in die faszinierende Welt des Hörens.
Nathalie Giroud: Die Frage lautet: Wie verarbeiten wir ein akustisches Signal wie Musik oder gesprochene Sprache? Die Forschungsfelder umfassen Audiologie, Gehirnforschung, Linguistik und ähnliche Gebiete. Die Audiologie beispielsweise erforscht die Vorgänge beim Hören, die Störungen des Hörvermögens sowie die Entwicklung von Behandlungsmöglichkeiten. Stefan und ich widerspiegeln diese Felder in der Grundlagenforschung und in angewandten Gebieten.
Stefan Launer: Das Hören hat aus meiner Sicht drei Funktionen: Erstens den sozialen Sinn, denn es verbindet Menschen. Zweitens den unbewussten Sinn, denn das Ohr registriert 24 Stunden am Tag, was vorgeht und warnt uns. Die Augen können wir schliessen, die Ohren nicht. Drittens: Der emotionale Sinn: Akustische Signale enthalten viel Information darüber, wie sich eine Person fühlt. Dazu gehören der Stimmklang und die Art des Sprechens.
L: Die Stimme ist ein Blick in die Seele. Sie zeigt etwa, wie gestresst Piloten, Polizisten, aber auch Mitarbeitende im Callcenter sind. Anhand einer Stimme kann man auch erkennen, ob eine Person an einer Depression leidet oder Parkinson entwickelt. Diese Erkenntnisse werden schon verschiedentlich angewendet.
L: Der Hörsinn hat vielfältige Aufgaben: Ein Geräusch wird vom sichtbaren Aussenohr eingefangen wie von einer Satellitenschüssel. Von da gelangt es via Trommelfell zum sehr empfindlichen Innenohr. Dieses verwandelt das Geräusch von einem Schall in ein neuronales Signal, das ins Gehirn weitergeleitet wird. Erst dort beginnt das eigentliche Hören, nämlich das Verstehen vom Inhalt der gesprochenen Sprache. Das Gehirn verknüpft das Signal mit bereits vorhandenen Eindrücken und Erfahrungen – etwa mit Sprache, Musik und Geräuschen.
G: Ein Sprachsignal durchläuft verschiedene Regionen im Gehirn, darunter den Hirnstamm und die Hörrinde, auch Hörzentrum genannt. Die Hörrinde tastet das neuronale Signal ab, zerlegt dieses in Stückchen wie zum Beispiel in Silben, verknüpft sie mit Bekanntem und leitet sie im Millisekundenbereich weiter an die Sprachnetzwerke im Gehirn. Dort formt es Worte und Sätze. Erst dann können wir etwas verstehen. Wenn wir kommunizieren, dann denken wir in Geschichten. Damit dies gelingt, leistet das Gehirn blitzschnell extrem viel Arbeit.
G: Es gilt, die ganze Bandbreite, die zum Hören beiträgt, abzuklären. Liegt es am Denkprozess (Kognition), ist Konzentration nicht mehr möglich? Ist die akustische Umgebung schlecht eingerichtet? Ist der normale Alterungsprozess des Gehirns eingetroffen? Zeichnet sich der Beginn einer Demenz ab? Oder hat sich das Gehirn ans schlechte Hören gewöhnt? Das Gehirn kann gut kompensieren und lernt über die Lebensspanne, sich an weniger Hören zu gewöhnen. Es gerät quasi aus der Hör-Übung und baut bei starkem Hörverlust die Fähigkeit ab, akustische Signale zu erkennen. Es gerät aus der Übung. Es gilt herauszufinden, ob es rein am Ohr liegt oder auch die Leistung des Gehirns abgenommen hat.
L: Im Innenohr. Wenn es geschädigt ist, nimmt es den Schall nur leise oder verzerrt und verschwommen wahr. Das Gehirn kann das Signal nicht mehr sampeln und «abgreifen». Der Abgleich mit den im Gehirn vorhandenen Informationen wird schwieriger. Es ist so, wie wenn man eine Fremdsprache nur mittelmässig beherrscht und nicht alles mitbekommt.
G: Im Alter verändert sich nicht nur das Innenohr, sondern auch das Gehirn. Verantwortlich hierfür ist eine dünnere Hörrinde im Hirn älterer Menschen. Sie dünnt aus. Gewisse Verknüpfungen verschwinden. Ältere Personen haben deshalb oft weniger Ressourcen, um Informationen verarbeiten zu können.
L: Im Alter hat man weniger kognitive Kapazität, um die gleichbleibenden Aufgaben zu lösen. Man kann einer Konversation gut folgen, wenn man sich anstrengt. Dabei wird man müde, weil man schlecht hört und sich anstrengen muss und nicht, weil man alt wird. Man braucht viel Aufwand, um Wörter zu verstehen. Wenn das Gehirn die korrekt empfangenen Signale nicht mehr richtig interpretieren kann, spricht man von einer Schallwahrnehmungsschwerhörigkeit.
L: Man unterscheidet zwischen Schallleitungs- und Schallempfindungsschwerhörigkeit. Erstere bedeutet eine Schädigung im Gehörgang oder Mittelohr, etwa durch eine Mittelohrentzündung. In solchen Fällen erreichen Schallwellen das Innenohr gar nicht mehr oder nur noch vermindert. Eine andere Ursache können Schädigungen im Innenohr sein, das die Signale in elektrische Impulse umwandelt. Das klappt dann nicht mehr. Schwerhörigkeit zeigt sich beispielsweise, wenn man den TV laut stellen muss, häufiger nachfragen muss oder die Vögel nicht mehr zwitschern hört.
Der Wert des Hörens wird unterschätzt – das Nichthören trennt von Menschen, führt zu sozialem Rückzug und Depression. Die emotionalen Auswirkungen sind enorm.
L: Selber merkt man das nicht immer oder will es auch nicht wahrnehmen. Anzeichen sind, dass man Gesprächen mit Familienmitgliedern nicht mehr gut folgen kann. Das Problem dabei: Man partizipiert nicht mehr am sozialen Leben und zieht sich zurück. Deshalb ist es wichtig, möglichst früh bewusst Gegensteuer zu geben. Bei diesem Prozess helfen verschiedene Massnahmen: Mit Familienangehörigen sprechen, um festzustellen, ob ein Rückzug besteht oder die professionelle Akustik mit ihren Abklärungen.
(Fortsetzung weiter unten…)
In der zweieinhalb Jahre dauernden Langzeitstudie* hat Nathalie Giroud mit einer Gruppe von Neuropsychologen untersucht, wie gut und wie schnell ein Gehirn im Alter lernen kann. Die Studie wurde in enger Zusammenarbeit mit dem Hörgerätehersteller Sonova durchgeführt. Dazu wurden 45 ältere und 15 jüngere Probanden ausgewählt und über mehrere Wochen in wiederkehrenden Abständen einem Hörtest unterzogen, während Gehirnströme gemessen wurden. In der Gruppe der älteren Testpersonen befanden sich sowohl Hörgeräteträger wie auch Menschen ohne Hörverlust.
«Ascha» oder «Afa»?
Alle Probanden mussten im Hörtest verschiedenste Silbenpaare voneinander unterscheiden, wie zum Beispiel „Ascha“ und „Afa“. Da sich die Silben in einem hohen Frequenzbereich nur in einem Laut, nämlich „sch“ und „f“, unterscheiden, ist diese Differenz für ältere Menschen mit Hörverlust nur mit grosser Mühe festzustellen. 256 Elektroden an der Kopfhaut leiteten die Gehirnströme weiter und wurden in einem EEG (Elektroenzephalographie) digitalisiert. So konnten die Forscher der Universität Zürich sichtbar machen, wie hoch die neuronale Anstrengung im Gehirn war, um den Unterschied festzustellen. Das heisst wie viele Gehirnzellen jede Testperson aktivieren musste, um den Unterschied der Silben zu registrieren.
In der Langzeituntersuchung zeigte sich, dass bei den jungen Menschen, das Gehirn immer weniger Aufwand betreiben musste, um den Unterschied herauszuhören. Bei den älteren Testpersonen ohne Hörverlust mussten bereits mehr Gehirnzellen aktiviert werden. In der Gruppe der Probanden mit Hörverlust wiederum war die Anstrengung im Gehirn noch deutlicher erkennbar. Als weiteres Ergebnis konnte nachgewiesen werden, dass während der dreimonatigen Untersuchung alle Teilnehmer ihre Leistungen im Hörtest verbessern konnten.
G: Die Uni Zürich forscht: Wie kann man Hör-Training alltagsrelevant gestalten? Man stellt etwa mit einem Hörgerät sicher, dass gesprochene Sprache ins Gehirn gelangt. Aber zusätzlich ist Training nötig, damit die Sprache im Gehirn verarbeitet und im Gedächtnis gespeichert werden kann. Bisher waren solche Gehirn-Trainings sehr künstlich, etwa am Computer einen Buchstaben drücken, wenn man ihn hört. Das hat dann wenig Erfolge erzielt für Schwerhörige im Alltag. Wir untersuchen auch gerade die Wirksamkeit von App-basiertem Üben von Lippenlesen. Weitere Fragen: Wie kann man das Gehirn so trainieren, dass es selber lernt mit geringeren Ressourcen umzugehen? Mit Neurofeedback – beruhend auf der Messung von Hirnströmen, die von einem Computer analysiert werden. «Gute» Hirnströme werden dann per Feedback dem Patienten zurückgemeldet und so verstärkt.
L: Die Schweiz ist für Sonova wegen dieser Forschungen sehr interessant. Deshalb haben wir eine Kooperation mit der Universität Zürich, um herauszufinden, wie man das Gehirn unterstützen kann.
G: Es ist eine Win-win-Situation, da eine sehr gute Versorgung mit entsprechenden Hörgeräten gewährleistet ist. Es gibt mittlerweile Hörgeräte, die einen grossen Teil der Arbeit des Gehirns abnehmen.
G: Die wichtigste Erkenntnis der Studie ist, dass bei älteren Menschen mit Hörverlust, die neu ein Hörgerät bekommen oder auch einen Hörgerätewechsel vornehmen, das Gehirn ungefähr zwölf Wochen intensives Training braucht, um wieder annähernd gleich gut Sprache verarbeiten zu können wie zuvor. Intensives Training in dieser Studie bedeutete, das Hörgerät mindestens zwölf Stunden pro Tag zu tragen und so das Hören mit dem Hörgerät zu üben. Viele Menschen mit Hörverlust denken, ein Hörgerät hilft ihnen unmittelbar, aber es braucht eben einen langen Atem. Dank dieser Studie ist klar, dass wir Hörverlust neu definieren müssen und nicht mehr ausschliesslich auf einen altersbedingten Schaden im Innenohr reduzieren können.
L: Die Brille zeichnete im 13. Jahrhundert und bis heute Intellektuelle aus. Anders beim Ohr: «Ich habe es nicht verstanden heisst: ich bin dumm». Auch Ausdrücke wie «dumm und taub», früher «tumb» und «taub», zeigen, dass schlechtes Hören vor allem in früherer Zeit als Stigma wahrgenommen wurde. Das erstaunt, denn Schwerhörigkeit ist die dritthäufigste chronische Erkrankung bei Menschen. Aber kein Arzt kommt auf die Idee, sie routinemässig abzuklären.
G: Bei der Brille besteht punkto Abklärung und dem Willen, sich eine zu leisten, kein Problem. Auf Hörgeräte hingegen greift man aus oben genannten Gründen erst spät zurück. Das hat Folgen: Wenn jemand unter starkem Hörverlust leidet, passt sich das Gehirn an. Wenn via Ohr zu wenig Input ins Gehirn gelangt, dann baut das Gehirn die Fähigkeit ab, akustische Signale wahrzunehmen.
L: Wir wurden auch schon gefragt: Warum macht ihr Hörgeräte nicht zu einem Designaccessoire wie Brillen? Der Versuch, sie in knalligen Farben und Designs anzubieten, zeigte: Gewählt wurden die herkömmlichen, unauffälligen Beige- und Graufarbtöne. Einzig Kinder möchten am liebsten schillernde, bunte Hörgeräte – da legen aber manchmal die Eltern ihr Veto ein.
G: Sie sprechen von mehr Selbstvertrauen, weniger Stress, sie fühlen sich besser und die Lebensqualität nimmt zu. Und sie können sie zunehmend einfach und unkompliziert anwenden. Die Tragdauer hat in den letzten Jahren zugenommen auf im Schnitt 8-12 Stunden pro Tag.
G: Wenn kein Signal mehr ins Gehirn gelangt, baut es ab. Nicht nur im fürs Hören zuständigen Bereich, sondern auch in anderen, etwa dem Hippocampus, der wichtig ist für das Gedächtnis. Bei Alzheimerpatienten baut der Hippocampus beispielsweise ebenfalls sehr stark ab. Trotzdem: Hörverlust führt nicht zu Demenz, ist aber ein Risikofaktor. Es gibt Studien, die verschiedene Faktoren einer Demenz untersuchen. Bluthochdruck, zu wenig Bewegung, Verlust von sozialem Austausch und weitere spielen dabei eine Rolle. Genetisch bedingte und andere unveränderbare Faktoren bilden zwei Drittel, ein Drittel aber könnte man präventiv wirksam behandeln, wie die oben genannten. Und einer der präventiven Faktoren ist das Vermeiden von oder die Behandlung von Hörverlust.
L: Australische Studien haben im September 2020 gezeigt, dass Hörgeräte zu einer Verlangsamung des Gedächtnisschwundes beitragen könnten. Es handelt sich um vorläufige, erste Ergebnisse.
L: Das Urhörgerät war die Hand hinter dem Ohr. Systematisch wurden im 16. Jahrhundert die Hörrohre angewandt. Allerdings versteckten die Adeligen alles hinter Fächern oder Perücken. Heute sind Hörgeräte vernetzt, etwa mit Mobiltelefonen oder dem TV. Künftig werden Hersteller auch optische Sensoren und Atmungsfrequenzmessung einbeziehen. Fazit: Es könnte ein multifunktionales Gerät entstehen, das auch verschiedene Gesundheitsparameter überwachen könnte und ein gesundes Leben unterstützt.
L: Das Ohr ist besser für die Gesundheitsprävention geeignet als andere Körperteile. Es hat eine sehr gute Durchblutung und weniger Störung. Am Ohr lässt sich die Herzfrequenz besser messen als am Handgelenk.
G: Geforscht wird auch an so genannten «Brain Computer Interfaces»: Sie messen die Gehirnaktivitäten. Ein Beispiel: Wenn ich mich in einem Raum befinde, in dem verschiedene Geräusche – auch Stimmen - vorhanden sind, und ich mich auf eines konzentrieren möchte: Was unternimmt das Gehirn, dass wir uns auf jemanden konzentrieren können? Dank den Messungen wissen wir es in Echtzeit und können es ins Hörgerät einspeisen. Diese Hörgeräte sind noch nicht auf dem Markt, doch es wird stark dran geforscht. Es existieren bereits Prototypen. Die Grundlagenforschung dahinter führt Untersuchungen durch, um herauszufinden, wie Aufmerksamkeit im Gehirn funktioniert. In Millisekunden!
L: Lärmexpositionen in Grenzen halten, denn zu hoher Lärm ist die Hauptursache. Konkret: nicht zu laute Musik hören, weniger Motorrad fahren, Freizeitlärm vermeiden. Gehörschutz ist hier und generell ein wichtiges Thema. Vermeiden von so genannten ototoxischen Medikamenten, wie beispielsweise bestimmte Antibiotika. Diese wirken schädigend auf das Innenohr und andere fürs Hören wichtige Bereiche. Immer wieder das Gehör testen. Gesunde Ernährung ist auch wichtig. Geraten Blutdruck, Stoffwechsel und Kreislauf aus dem Gleichgewicht, betrifft das auch das Innenohr.