Wir Menschen sind stark auf den Sehsinn ausgerichtet. Dies widerspiegelt sich auch in unseren Gehirnen. Dennoch gibt es Unterschiede und Ausnahmen, wie ein Neuropsychologe erklärt.
Angenommen, Sie würden einen Sinn verlieren und müssten zwischen dem Sehen und dem Hören wählen – was wäre schlimmer? Eine hypothetische Frage zum Glück. Doch die meisten Menschen fürchten sich wohl stärker vor der Dunkelheit als vor der Stille.
Dass uns das Sehen am wichtigsten erscheint, ist keineswegs zufällig, sondern hat mit der Anatomie unseres Gehirns zu tun: Ein grosser Teil davon ist für das Visuelle reserviert. Die über das Auge registrierten Reize werden über den Sehnerv in die Grosshirnrinde (Cortex) geleitet und dort verarbeitet. Indem wir die neuen Informationen blitzschnell mit Erinnerungen abgleichen, können wir sie einordnen und als Objekte, Landschaften, andere Menschen oder Tiere erkennen.
Über das Sehen steuern wir zudem grösstenteils unsere Motorik. Wenn wir gehen oder nach etwas greifen, orientieren sich unsere Füsse und Hände über die Augen. Auch für die Ernährung sei der Sehsinn bereits in Vorzeiten enorm wichtig gewesen, erklärt Lutz Jäncke, Neuropsychologie-Professor an der Universität Zürich. «Unsere Vorfahren warfen ihren Speer auf ein Mammut, schlitzten den Körper mit scharfen Steinen auf und suchten nach Pilzen und Beeren. Über die Farb- und Formenwahrnehmung schätzten sie den Reifezustand ein.»
Für die Suche nach einem Sexualpartner sowie die Beziehungsgestaltung zu anderen Menschen ist der Blick ebenfalls wesentlich: Aus Mimik, Gestik und Körperhaltung schliessen wir, wie unser Gegenüber gestimmt ist und können uns darauf einstellen. Jäncke macht die Dominanz des Sehsinns auch dafür verantwortlich, dass wir im Internet oft recht ungehobelt miteinander umgehen: «Würden wir gegenseitig unseren Gesichtsausdruck sehen, wären wir vorsichtiger mit unseren Formulierungen.»
Bei zwischenmenschlichen Interaktionen spielen zwar auch die Stimme sowie der Geruch eine Rolle und somit der Hör- und Riechsinn. Doch diese seien dem Sehsinn klar untergeordnet, stellt Jäncke klar: «Der Homo Sapiens ist ein Sehtier. Die Annahme, dass es Augen- und Ohrenmenschen gibt, ist falsch.»
Natürlich gibt es Menschen, bei denen der Hörsinn ausgeprägter ist als bei anderen. Zum Beispiel werden Musiker beim Spaziergang durch eine Stadt Geräusche wie Baulärm, Autohupen, Gelächter oder Kirchenglocken deutlich intensiver wahrnehmen als andere Personen, die sich mehr auf die Auslage in den Schaufenstern, die Kleidung der Menschen, die Trams und Velos sowie die Architektur konzentrieren, während sie Töne tendenziell ausblenden.
Besonders gut ausgebildet sind die anderen Sinne notgedrungen bei blinden Menschen. Sie nehmen die Welt hörend, tastend und riechend wahr und interpretieren sie entsprechend. Dies zeichnet sich auch in ihren Gehirnen ab: Areale, die üblicherweise für das Visuelle zuständig sind, werden von anderen Sinnen in Beschlag genommen.
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Auch Lernen fällt den meisten Menschen leichter über den Sehsinn. Dass es visuelle und auditive Lerntypen gibt, ist gemäss Lutz Jäncke ein Mythos. Und er hat eine plausible Erklärung dafür: Die gesprochene Sprache gleicht einem Strom von Informationen. Die Wörter reihen sich aneinander – im Fachjargon spricht man von serien-parallel.
Das Gehirn muss die Informationen sammeln, im Gedächtnis behalten, bündeln und zu einem sinnvollen Inhalt umwandeln. «Das ist zeitraubend, mühsam und fehleranfällig», erklärt der Professor. Es erfordere eine viel grössere Leistung, als wenn wir ein Bild anschauen, bei dem wir sofort das Ganze auf einmal erfassen.
Deshalb sind Fotos, Grafiken und Diagramme besonders geeignet, Inhalte effizient zu vermitteln. Und sogar geschriebener Text kann von vielen besser aufgenommen werden als gesprochener. Denn geübte Leserinnen und Leser müssen nicht mehr Wort für Wort entziffern, sondern erfassen eine Wortgruppe oder einen ganzen Satz aufs Mal – im Fachjargon spricht man von paralleler Auffassung.
Ausschlaggebend dafür, wie wir Lerninhalte aufnehmen können, ist zudem, ob sie gut strukturiert sind. Bei der visuellen Kommunikation leidet die Aufmerksamkeit zum Beispiel unter einer chaotischen Darstellung mit vielen verschiedenen Formen, einer verschnörkelten Schrift oder zu kleinem Zeilenabstand. Bei einem Vortrag dagegen vermögen ein ausgewogenes Sprechtempo, geschickt eingefügte Pausen sowie eine geeignete Modulation der Stimme die Konzentration zu erhöhen.
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Obwohl wir generell über den Sehsinn besser lernen: Vor der Erfindung der Schrift erfolgte die Vermittlung von Wissen ausschliesslich über die gesprochene Sprache. Erzählungen wurden von Generation zu Generation weitergegeben und viele Male wiederholt. Bei einigen Naturvölkern hat sich diese Tradition bis heute gehalten. Dennoch sind auch sie auf einen gut ausgeprägten Sehsinn angewiesen, um sich in der Landschaft zurechtzufinden. Steppenbewohner zum Beispiel sollen bei der räumlichen Wahrnehmung im Vorteil sein.
Neben dem Sehen und Hören spielen Riechen, Schmecken und Tasten eine untergeordnete, aber dennoch wichtige Rolle. Der Tastsinn umfasst mehrere Dimensionen: Es gibt Sinneszellen für Berührungen, Kitzeln, Druck, Temperatur und Schmerz.
Mit den klassischen fünf Sinnen nehmen wir die Welt um uns herum wahr. Zusätzlich verfügen wir über einen Gleichgewichtssinn, der uns die eigene Körperhaltung anzeigt, sowie einen Sinn für die Tiefensensibilität, mit dem wir zum Beispiel die Spannung eines Muskels oder die Beugung eines Gelenks erkennen.
Weitere Sinne existieren im Tierreich: Fledermäuse zum Beispiel orientieren sich per Ultraschallwellen, Zitteraale spüren elektrische Felder und viele Zugvögel können das Magnetfeld der Erde wahrnehmen.
Der Mensch ist in vielen Bereichen der Wahrnehmung eher unterentwickelt. Greifvögel zum Beispiel sehen auf weite Distanzen viel schärfer als wir, während Eulen und Fledermäuse extrem gut hören. Und beim Riechen sind uns Hunde bekanntlich weit überlegen.
Dennoch nehmen wir viele Gerüche wahr, ohne uns dessen bewusst zu sein. Dies spielt zum Beispiel bei der Partnerwahl eine wichtige Rolle. Ob man jemanden riechen kann, stellt sich jedoch nicht beim Kennenlernen auf einer Dating-Plattform heraus, sondern erst bei einem persönlichen Treffen.
Zudem sind an Gerüche viele Emotionen geknüpft. Dies liege daran, dass Geruchsreize direkt in die Grosshirnrinde geleitet werden, während alle anderen Reize zuerst im Gehirnareal Thalamus gefiltert werden, erklärt Lutz Jäncke. «Deshalb können das Parfüm der ersten Freundin oder die Kernseife der Grossmutter auch später im Leben noch starke Gefühle auslösen.»