Die Betreuung von Pflegebedürftigen zuhause ist anspruchsvoll. Ein Ehepaar erzählt, wie es seinen Alltag rund um die Bedürfnisse ihrer Tochter arrangiert. Dabei klingt auch eine gehörige Portion Frustration an.
Die Lifttür öffnet sich direkt in der Wohnung. Christine Stoffel (Anm.d.R.: Die Namen wurden geändert) tritt mit Hilfe ihrer Mutter heraus und setzt sich nach ein paar wackligen Schritten auf einen Lehnstuhl. Sie trägt Spezialschuhe mit einer dicken Sohle. Das Gehen fällt ihr sichtlich schwer. Doch nun blickt sie die Besucherin interessiert an und begrüsst sie – auf ihre ganz spezielle Art: «Dumm», sagt die junge Frau und lacht verschmitzt in sich hinein. Als ihre Mutter sie liebevoll ermahnt, etwas freundlicher zu sein, legt Lydia mit diebischer Freude nach: «Sauhund!»
Die Journalistin war vorgewarnt. «Christine schnappt solche Wörter von anderen auf und verwendet sie oft im falschen Moment. Sie meint es nicht böse», hat Astrid Stoffel Mäder* im vorhergehenden Gespräch erklärt. Aufgrund von Sauerstoffmangel während der Zwillingsgeburt ist ihre Tochter mehrfach körperlich und geistig behindert. Von Montag bis Freitag besucht sie jeweils eine Tagesstruktur in einem nahen Wohnheim. Ansonsten wohnt sie bei ihrer Mutter und ihrem Stiefvater in einem ruhigen Zürcher Stadtquartier. Auch der leibliche Vater und der Zwillingsbruder kümmern sich an den Wochenenden oft um sie.
Die 36-Jährige benötigt Hilfe bei fast allem: bei der Körperpflege, beim Essen, beim Toilettengang. Nachts hat sie häufig epileptische Anfälle. Die Eltern lassen die Tür zu ihrem Schlafzimmer offen, damit sie in solchen Fällen schnell bei ihr sind. Die Betreuung der behinderten Tochter nehme bestimmt 200 Stunden im Monat in Anspruch, schätzt Stoffel Mäder. «Ein Eigenleben kann man vergessen.»
Betreuung geschieht oft im Stillen und Verborgenen. Doch es sind sehr viele Personen, die in irgendwelcher Form für ihre Angehörigen sorgen: Gemäss einer Umfrage im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit von 2019 befindet sich in der Schweiz jede 13. Person in dieser Rolle, also nahezu 600 000 Personen. Sogar eine beträchtliche Anzahl Kinder und Jugendliche kümmern sich bereits um ihre Eltern, Grosseltern oder eine andere Person. Am meisten involviert sind Angehörige zwischen 50 und 60 Jahren. Über alle Altersklassen hinweg entfallen die meisten Betreuungsleistungen auf die Eltern, während die über 80-Jährigen am häufigsten für den Partner oder die Partnerin sorgen.
Die Betreuenden sind für ihre Angehörigen da, beobachten ihr Wohlergehen, übernehmen finanzielle und administrative Aufgaben sowie andere Hilfestellungen im Alltag. Eine Minderheit leistet medizinische oder pflegerische Hilfe. Die meisten von ihnen investieren weniger als zehn Stunden pro Woche. Mehr als 10 Prozent gaben jedoch an, über 30 Stunden für ihre Angehörigen da zu sein oder sogar rund um die Uhr.
Der Bundesrat will die Bedingungen für betreuende Angehörige nun verbessern. Ein erster Schritt ist der bezahlte Betreuungsurlaub von 14 Wochen für Eltern von kranken Kindern, der 2021 in Kraft trat. Für Menschen mit einer Behinderung können zudem bei der Invalidenversicherung Assistenzentschädigungen beantragt werden. Und in gewissen Fällen erhalten Angehörige eine Betreuungsgutschrift von der Alters- und Hinterlassenenversicherung.
Um weitere Verbesserungen zu erreichen, erarbeitet die Organisation Pro Aidants eine Strategie zur Unterstützung betreuender und pflegender Angehöriger.
Als ihre drei Kinder klein waren, war es besonders streng für die Familie. Auch die Grossmutter half häufig mit. Stoffel Mäder wollte verhindern, dass der Zwillingsbruder und die ältere Schwester bei der Pflege mithelfen und ständig Rücksicht nehmen müssen. Deshalb wohnten die Geschwister ab dem Alter von 12 Jahren unter der Woche in einem Internat. «Beide hängen sehr an Christine, auch heute noch», betont die Mutter. «Aber etwas Distanz hat ihnen gutgetan.»
Seit Christine Stoffel zweijährig war, hat auch Stiefvater Jso Mäder stets einen grossen Teil der Betreuung übernommen. Als freischaffender Künstler ist er zeitlich relativ flexibel. Neben den täglichen pflegerischen Verrichtungen ist es ihm wichtig, dass der jungen Frau genügend Abwechslung und geistige Anregung zuteil wird. «Sie ist Profi im Uno-Spielen», schmunzelt der 62-Jährige. Die beiden setzen Puzzles zusammen, um die Feinmotorik zu fördern, oder üben einfache handwerkliche Tätigkeiten wie etwa einen Nagel einschlagen. Auch Angebote von Behindertenorganisationen haben sie schon besucht: Film- und Tanzveranstaltungen oder Karaoke-Singen. Die Förderung von Behinderten – insbesondere Schwerbehinderten und solche im Erwachsenenalter – komme generell zu kurz, finden die Eltern. Regelmässig bringen sie die Tochter deshalb in spezielle Therapien.
Unterstützung angenommen haben die beiden eine Zeit lang vom Entlastungsdienst des Kantons Zürich, der ehrenamtliche Helfende vermittelt. Diese gingen zum Beispiel spazieren mit Christine Stoffel oder spielten mit ihr, übernehmen aber keine Pflegeaufgaben. Dafür wären professionelle Dienste wie die Spitex zuständig. Wegen des häufigen Personalwechsels hat die Familie diese aber nur einmalig in einer Ausnahmesituation in Anspruch genommen. Für Christine sei es schwierig, wenn sich immer wieder andere Menschen um sie kümmern, erklärt Mäder. Dies war wohl auch ein Grund dafür, dass ein Umzug in ein Heim missglückte. Die Tochter habe sich nicht wohl gefühlt und wollte dort nicht ins Bett gehen.
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Die Mutter ist mittlerweile im Pensionsalter. Als gelernte Pflegefachfrau arbeitet Astrid Stoffel Mäder aber noch immer mit einem halben Pensum in einem Spital. Einerseits, weil es ihr Spass macht, andrerseits aber auch aus finanziellen Gründen: Wegen der Betreuungsaufgabe konnte sie stets nur Teilzeit arbeiten, was sich nun im Guthaben ihrer Altersvorsorge bemerkbar macht. Hätten sie ihre Tochter in ein Heim gegeben, hätte das die öffentliche Hand rund 14 000 Franken monatlich gekostet, sagt Stoffel Mäder. Übernehmen jedoch Angehörige die Betreuung, erhalten sie in der Regel keinen Rappen. «Das ist unerhört», ereifert sie sich. «Behinderte und ihre Angehörigen haben einfach keine Lobby.»
Die jahrelange Betreuung hat das Paar stark beansprucht. «Wenn man in so einer Situation ist, denkt man nicht lange nach, sondern funktioniert einfach», blickt Astrid Stoffel Mäder zurück. «Ein Burnout kann man sich gar nicht leisten.» Trotz allem habe ihr die Aufgabe auch viel Lebenssinn gegeben, sagt sie. Und Christine drücke ihre Zufriedenheit und Dankbarkeit immer wieder auf ihre ganz eigene Art aus. «Dumm», sagt die junge Frau nochmals und verbeisst sich ein Lachen, als sie dem Besuch zum Abschied die Hand reicht.
Der Adele-Duttweiler-Preis ging 2020 an den Verein Zoé4life. Er unterstützte ein Mädchen und seine Eltern im Kampf gegen den Krebs.
Der Preis ist nach der Frau des Migros-Gründers Gottlieb Duttweiler benannt. Er wird alle zwei Jahre verliehen und ist mit 100 000 Franken dotiert. 2020 ging er an Zoé4life. Der Verein wurde 2013 gegründet,
um der krebskranken Zoé eine Behandlung im Ausland zu finanzieren. Das Mädchen verstarb im Alter von vier Jahren. Mutter Natalie Guignard setzte mit Nicole Scobie, einer anderen Mutter, den Kampf für Betroffene fort. Der Verein Zoé4life hilft
Die Spende der Migros wird in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Pädiatrischen Onkologie Gruppe zur Entwicklung neuer Behandlungsmethoden im Inland verwendet. Dadurch müssen Kinder nicht ins Ausland verlegt werden, was das Familienleben stark entlastet. Spenden: zoe4life.org
Patrick Hofer*: Viele Angehörige kommen ziemlich an den Anschlag. Eine Erhebung des Bundes zeigt nun, wie wichtig sie in der Betreuung von pflegebedürftigen Menschen sind: Sie übernehmen 80 Prozent, während auf Professionelle nur 20 Prozent entfallen. Angehörige brauchen dringend mehr Unterstützung.
Betreuende – wir sprechen auch von Carern – leiden oft unter fehlender Wertschätzung. Sie nehmen ihre Aufgaben meist im Verborgenen wahr. Oft verfügen sie auch über wenig Informationen, wo sie sich Entlastung organisieren können. Einige übernehmen sich und werden selber krank. Zudem ist Betreuungsarbeit eine Armutsfalle, weil Berufstätige ihr Pensum aufgeben oder reduzieren und darunter auch ihre Altersvorsorge leidet.
Vereinzelt bestehen neuerdings Möglichkeiten, sich bei Spitex-Organisationen anstellen zu lassen. Manche verlangen aber eine Ausbildung als Pflegehilfe. Zudem können Assistenzentschädigungen oder Betreuungsgutschriften beantragt werden. Freiberuflich Tätige fallen allerdings häufig durchs Netz – genauso wie beim neu geschaffenen Betreuungsurlaub für Erwerbstätige (s. Box).
Diese Organisationen leisten bestimmt viel. Dennoch hat die Studie des Bundes gezeigt, dass die Hälfte der betreuenden Angehörigen kein passendes Angebot findet. Entweder weil es schwierig ist, sich zu orientieren, oder weil Lücken bestehen. Zum Beispiel kommt die Krankenversicherung zwar für medizinische und pflegerische Leistungen auf, nicht aber für generelle Fürsorge wie etwa einfach da sein oder Unterstützung im Haushalt. Schwierig wird es auch in der Nacht sowie in Notfallsituationen. Das hat sich aktuell gerade wieder in der Corona-Krise gezeigt.
Während des Shutdowns waren Tagestrukturen geschlossen und die Angehörigen mussten in die Bresche springen. Doch was, wenn sie krank werden und ebenfalls ausfallen? Für solche Situationen haben wir einen Notfallplan ausgearbeitet. Auf dem Bogen können Angehörige alle möglichen Angaben zur benötigten Pflege festhalten.
Ein aktuelles Projekt ist eine Datenschutz-taugliche App, auf der sich alle Beteiligten rund um eine pflegebedürftige Person austauschen und koordinieren können. Auch arbeiten wir am Förderplan des Bundes für betreuende Angehörige mit. Wir haben Pro Aidants erst vor eineinhalb Jahren gegründet und sehen viele Baustellen. Vor allem wollen wir Carern mehr Gehör verschaffen.
*Patrick Hofer ist Vorstandsmitglied der Angehörigen-Organisation Pro Aidants.