Berührt zu werden ist nicht nur für Neugeborene überlebenswichtig, sondern trägt auch bei Erwachsenen zu mehr Wohlbefinden und weniger Aggressivität bei: Einblick in neue Erkenntnisse aus der Gehirnforschung.
«Küsst und umarmt eure Kinder niemals», riet Psychologe John B. Watson im Jahr 1928. Die sonst herrschende Verweichlichung der Kinder bereite sie nicht genügend auf die harte Realität der Erwachsenenwelt vor.
Was passiert, wenn dieser Ratschlag Wirklichkeit und Kindern jegliche liebevolle Berührung versagt wird, mussten Heranwachsende in rumänischen Heimen in den 1980er Jahren am eigenen Leib erfahren: Aufgrund der Überbelegung in den Heimen blieb dem Betreuungspersonal keine Zeit, die einzelnen Kinder adäquat zu betreuen – keine aufmunternden Worte, keine körperliche Nähe.
Der Liebesentzug störte die frühkindliche Entwicklung und verursachte Langzeitschäden – von Konzentrationsstörungen bis hin zu Magenproblemen. Für Neugeborene und Kinder ist Berührung also essentiell. Doch was ist, wenn wir erwachsen werden? Wird Berührung dann optional, ein «Nice-to-have» für zarte Gemüter? Keineswegs, meinen Forscher, die sich dem Thema verschrieben haben.
Warum können wir uns eigentlich nicht selber kitzeln? Warum fühlen wir nicht konstant ganz genau, wie sich unsere Socke in den Schuhen reibt oder das Bein an der Hose, wenn wir laufen? Der Grund: Unser Gehirn ist evolutionsbiologisch darauf trainiert, Berührungen, die von uns selbst kommen, weniger stark zu empfinden, dabei also keine bestimmten Signale zu senden. Unser Tastsinn ist vielmehr auf Aussenwirkung gerichtet.
David Linden, Professor für Neuropsychologie an der Johns Hopkins Universität, beteuert gar: «Es ist die Berührung, die uns menschlich macht.»
Studien aus der Welt der Berührungsforschung verraten Erstaunliches: Sportteams, deren Spieler sich öfter mal einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken oder eine Umarmung geben, spielen weniger aggressiv und besser im Team – und gewinnen dadurch eher.
Berührt der Kellner Sie während des Essens einmal kurz am Arm, werden Sie höchstwahrscheinlich mehr Trinkgeld geben. Und würden Sie in der Migros an der Kasse gefragt werden, ob Sie jemanden vorlassen, wären Sie eher dazu bereit, wenn die Person Sie vorher kurz berührt hätte.
Wie aber funktioniert dieses Wechselspiel zwischen Berührung und der darauffolgenden veränderten Reaktion? Die Antwort liegt im Gehirn und der Ausschüttung von bestimmten Hormonen.
Diese Art von Berührung, im Jargon «affectionate touch» (zärtliche Berührung) genannt, senkt nicht nur Puls und Blutdruck, sondern verringert auch das Stresshormon Cortisol im Blut.
Gleichzeitig steigert positive Berührung das Ausschütten des Liebeshormons Oxytocin sowie das Glückshormon Serotonin und wirkt somit gegen Stress, depressive Verstimmungen und schmälert das Aggressionspotenzial.
Eine Berührung geht direkter ins Gehirn, als gut gemeinte Worte.
Bahnbrechend war die Erkenntnis, dass unser Gehirn bei positiver Berührung andere Nervenstränge aktiviert als bei «negativer» Berührung (zum Beispiel Schmerz).
Gemäss Neuropsychologieprofessor Linden entsteht Berührung bei unterschiedlichen Nervenenden, welche das Empfinden von Schmerz, Hitze etc. an das Gehirn weiterleiten. Diese Information ist jedoch nicht neutral, sondern das Gehirn ordnet die Empfindung bereits nach wenigen Millisekunden ein – «neutrales» Fühlen existiert also gar nicht, sondern ist immer bereits vermischt mit emotionalen Empfindungen.
Wird ein angenehmer, leichter Druck am Arm oder der Schulter spürbar, wird diese Berührung sofort als positiv eingestuft, die entsprechende Hirnregion aktiviert und die positiven Empfindungen ausgelöst.
Lassen Sie es also beim nächsten Mal, wenn sie einem Menschen gut zureden, nicht bloss bei Worten, sondern berühren Sie Ihr Gegenüber: Eine Berührung geht direkter ins Gehirn als gut gemeinte Worte. Es kommt übrigens nicht darauf an, wer berührt oder wer berührt wird: Von den positiven Effekten profitieren beide.