Wir schreiben das Jahr 1969, das Feuer des «Summer of Love» (1967) brennt noch immer. Doch auch der Winter vermag Leidenschaft zu schüren. Das beweist eine junge Frau aus Frankreich, die am Start des ersten Engadiner Marathons steht: Françoise Stahel.
Vor zehn Jahren ist sie nach Klosters in die Berge gekommen – und geblieben. Vor allem der Winter hat es ihr angetan. «Von Langlaufen und Technik hatte ich keine Ahnung, doch meine Kondition war gut», sagt sie rückblickend und lacht. Die Fotos vom Lauf bestätigen ihre Aussage (siehe Fotogalerie am Ende des Textes): Die Beine der Frau mit der Nummer 263 scheinen wackelig auf den Skiern zu stehen, der Oberkörper ist nach vorne gebeugt, die Stöcke dienen wohl eher der Balance als dem Schub. Doch sie schafft es ins Ziel – wie alle damals im klassischen Stil. Drei Jahre später wurde sie sogar Zweite, immer noch dank ihrer Ausdauer. Keinen einzigen Marathon hat die heute 80-Jährige verpasst.
Auch wenn sie nie zuoberst auf dem Podest stand, hält sie doch einen Rekord: Keine Frau weltweit hat den Engadin Skimarathon öfter bestritten als sie. 2018 wird sie ihren 50. Engadiner bestreiten – ein wunderbares Jubiläum! «Ausser entzündeten Ohren und Druckstellen an den Füssen gibt es nichts zu beklagen», blickt sie auf ihre unfallfreie Marathon-Zeit zurück. Allerdings ging sie auch schon erkältet oder mit Grippe an den Start.
«Madame Langlauf» kam eher zufällig zu ihrer grossen Leidenschaft. Als Sprachschülerin und später Rezeptionistin lernte die gebürtige Französin den Winter in den Bergen kennen und lieben. Als Ausdauertalent tauschte sie die breiten Alpinlatten bald gegen die dünnen Langlaufskis und erlag der Faszination.
«Lange durch den Schnee zu gleiten, ist wie eine Meditation», sagt die vierfache Grossmutter. «Laufen tut uns deshalb gut, weil das Gehirn genug Sauerstoff bekommt. Man fühlt sich nicht nur besser, sondern ist auch geistig in Form.» Und wenn dies alles noch in der gesunden Bergluft geschehe, sei es umso wirksamer. Dazu kommt: «Die Zufriedenheit und die Ausgeglichenheit nach dem Langlaufen sind fantastisch!»
Nicht nur nach dem Marathon ist sie jeweils in einem unglaublichen Hoch, sondern stets nach dem Langlaufen. «Ich könnte jeweils Berge versetzen.» Dazu trägt sicher bei, dass Langlaufen ein kompletter Sport ist, der den ganzen Körper beansprucht. (Lesen Sie unten weiter...)
Zweimal pro Woche trainiert sie im Winter im Wohnort Klosters, ab und zu auf der Marathon-Originalstrecke im Engadin. Insgesamt kommen heute so rund 250 bis 300 Kilometer pro Saison zusammen. Früher waren es 2000 Kilometer. Im Sommer ersetzen Nordic Walking und Wandern das Skating im Schnee.
Wann genau sie aufs Skating umgestiegen ist, weiss Françoise Stahel nicht mehr. Sicher erst einige Zeit nach 1975. Denn damals überraschte der 22-jährige Draufgänger August Broger die klassisch laufende Konkurrenz, indem er auf Kunststoffskis ohne Haftwachs mit Doppelstockstössen und Schlittschuhschritten den Engadiner mit Streckenrekord gewann. Ein Vorläufer des Skating, das sich erst Mitte der 1980-Jahre etablierte, war geboren.
Nicht aus dem Leben von «Madame Langlauf» wegzudenken ist die schwarze Hündin Bonita, die ihrer Meisterin punkto Fitness in nichts nachsteht. Sie braucht täglich mehrstündige Spaziergänge. Eine Aufgabe, die Frauchen gerne übernimmt, am liebsten im Vereina- und im Silvrettatal, vorbei an den drei Alpen Pardenn, Novai und Garfiun. Das ist die Lieblingsloipe der rüstigen Klosterin.
Für die Beweglichkeit und das bewusste Atmen sorgen zwei Yogalektionen pro Woche. Yoga-Atemübungen helfen jeweils auch bei Nervosität vor dem Start. «Sobald man gleitet und tief ausatmet, ist die Nervosität weg», sagt Françoise Stahel. Dies dürfte auch beim Jubiläumslauf 2018 der Fall sein, insbesondere weil sie zusammen mit Tochter und Enkelin in den Weiten der Bergwelt losgleiten wird.