Wer wissen will, ob er unter Stress leidet, kann sich das Schwarz auf Weiss belegen lassen. Arbeitspsychologin Ramona Wunderlin misst den Stress.
Frau Wunderlin, wie weiss ich eigentlich, wann und ob ich gestresst bin?
Ramona Wunderlin: Manchmal registrieren wir sehr schnell, dass wir unter Strom stehen. Das Herz rast, der Puls ist stark erhöht. Ursachen dafür gibt es viele, positive wie negative Erlebnisse. Aber nicht jede Stresssituation ist für alle als solche wahrnehmbar.
Lässt sich Stress mit einem Instrument zuverlässig messen?
Ja. Stress ist messbar. Unser Herz schlägt durchschnittlich 70 mal pro Minute, allerdings mit Abständen zwischen den einzelnen Schlägen. Diese zeitlichen Schwankungen nennt man Herzratenvariabilität, kurz HRV. Ein HRV-Profil erlaubt Informationen über die Anpassungsfähigkeit unseres Herzens. Ist unser Herz flexibel und vital, kann es sich blitzschnell an die unterschiedlichsten Situationen anpassen. Je monotoner, je gleichmässiger dagegen die zeitlichen Abstände zwischen den Herzschlägen sind, umso mehr Stress erfährt das Herz. Die Anpassungsfähigkeit geht verloren. Das Herz ist erschöpft. Das HRV-Verfahren ist bereits seit längerer Zeit aus dem Sport bekannt, wenn es um Leistungsmessungen und Erholungsphasen geht. Nun beginnt es langsam auch in der Arbeitswelt an Bedeutung zu gewinnen.
Wie läuft ein solches Stress-Screening in der Praxis genau ab?
Weil viele unterschiedliche Faktoren Einfluss auf die Herzratenvariabilität haben, macht eine Momentaufnahme keinen Sinn. Du trägst deshalb ein Gerät während 24 Stunden, damit ein Abbild des gesamten Tages und der Nacht geschaffen wird. Denn auch im Schlaf kann der Körper unter Stress stehen. Das Messgerät misst die elektrischen Signale des Herzens mittels Elektroden. Dazu ist kein körperlicher Eingriff nötig. Die Messung sollte an einem ganz normalen Arbeitstag durchgeführt werden.
Lässt sich wie bei einem hohen Blutdruck sagen: Ab einem bestimmten Wert wird es ungesund, ein Arzt sollte konsultiert oder ein Jobwechsel in Betracht gezogen werden?
Einen solchen Wert gibt es nicht. Das 24-Stunden-Profil, vergleichbar mit einem EKG-Bild, liefert aber recht klare Anhaltspunkte für den aktuellen Stress-Zustand eines Menschen. Fragen wie „Erhole ich mich ausreichend oder ist mein Schlaf erholsam?“ lassen sich damit gut beantworten. Wenn man einen stressigen Arbeitstag hat, abends aber gut abschalten und sich während des nächtlichen Schlafes gut erholen kann, stellt Stress kein Risiko dar. Ist aber die Erholung und Regenerationsfähigkeit des Körpers während Wochen oder gar Monaten nicht mehr gegeben, ist es höchste Zeit zu handeln.
Was kann ich selber unternehmen, um den Stress am Arbeitsplatz im erträglichen Rahmen zu halten?
Der erste Schritt ist immer eine bewusste Wahrnehmung von sich selbst: Wann fühle ich mich gestresst? Wie reagiere ich dann? Und wie verstärke ich meinen Stress selbst? Sind es perfektionistische Ansprüche, Ungeduld oder das Gefühl, alles alleine machen zu müssen? Letztlich geht es darum, die Balance mit passenden Massnahmen wiederherzustellen. Diese können die eigenen Gedanken betreffen oder irgend einen Ausgleich. Ein Spaziergang an der Sonne, ein Gespräch mit einem guten Freund, auf dem Sofa in der Wolldecke ein Buch lesen.