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Gesünder leben?

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Das müssen Sie über Jodtabletten wissen

Aus Sorge vor einer nuklearen Bedrohung überlegen viele Menschen, ob sie Jodtabletten besorgen sollen. Wie sie wirken, wann sie eingenommen werden sollten und was sonst noch nützt.

Wie Jodtabletten wirken

Jodtabletten sind nur für den Ernstfall gedacht. Denn sie bewirken etwas, das normalerweise unerwünscht ist: Das hochdosierte Jod drosselt für rund sieben bis 14 Tage die Jodaufnahme und so die Produktion der lebenswichtigen Schilddrüsenhormone. Deshalb sollte man sie nur einnehmen, wenn die Nationale Alarmzentrale dazu auffordert. Die Verteilung übernehmen die Kantone.

«Der tägliche Jod-Bedarf der Schilddrüse liegt im Mikrogrammbereich. Die Jodtabletten, die die Bevölkerung bei einem nuklearen Notfall einnehmen soll, enthalten pro Stück 50 Milligramm Jod, also über tausendmal mehr, als die Schilddrüse benötigt», sagt Beat Müller, der Leiter der Medizinischen Universitätsklinik am Kantonsspital Aarau.  

Bei einem Atomunfall soll dieses hochdosierte Jod die Schilddrüse so mit Jod «sättigen», dass sie möglichst kein radioaktives Jod (Jod-131) aufnimmt. Dieses wird bei Atomunfällen freigesetzt und kann über die Luft auch weit entfernte Regionen erreichen, wenn der Wind ungünstig bläst. 

Was die «Jodblockade» verhindern soll

Schilddrüsenhormone und Jod

Die Schilddrüse ist bei der Geburt ein Gramm leicht, bei gesunden Erwachsenen wiegt sie zehn bis zwanzig Gramm. So klein sie ist, so wichtig ist sie für die Entwicklung des Kindes und für das weitere Leben. 

Die Schilddrüsenhormone – namens T3 (aktive Form) und T4 (Speicherform›) – beeinflussen sowohl das Wachstum als auch die geistige Entwicklung positiv und sie spielen auch bei praktisch allen Lebensvorgängen eine Rolle: Vom Herzschlag bis zur Fortpflanzungsfähigkeit sind sie für eine Vielzahl von Vorgängen im Körper essenziell. Die Schilddrüsenhormone sind lebenswichtig – in jedem Alter. 

Um sie herstellen zu können, benötigt die Schilddrüse das Spurenelement Jod. Normalerweise stammt dieses Jod aus der Nahrung. Fisch, Algen, jodiertes Speisesalz und Milch enthalten vergleichsweise viel davon. Die Schilddrüse «saugt» das Jod aus dem Blut auf wie ein trockener Schwamm das Wasser – vor allem bei Personen, die in Jodmangelgebieten leben und unter chronischem Jodmangel leiden. Das ist in der Schweiz dank des Jodzusatzes im Speisesalz aber kaum noch der Fall. Deshalb ist auch die Zahl der Menschen mit Kropf zurückgegangen.

Wie frühere Atomunfälle gezeigt haben, führt radioaktives Jod vor allem bei jungen Menschen im Verlauf von bis zu zwanzig Jahren zu Schilddrüsenkrebs. In Weissrussland etwa fiel nach dem Unfall in Tschernobyl zuerst die ungewöhnliche Häufung von Schilddrüsenkrebs bei Kindern auf. Bei Erwachsenen verfünffachte sich etwa die Zahl der Fälle. Beat Müller gibt zu bedenken, dass dort auch die gezieltere Suche nach dieser Erkrankung zum Anstieg dieser Fälle beigetragen haben dürfte.

«Das Risiko dafür liegt im Prozentbereich. Durch die Einnahme der Jodtabletten lässt es sich vermutlich in den Promillebereich drücken», sagt Beat Müller. 

Je jünger eine Person zum Zeitpunkt des Kontakts mit radioaktivem Jod ist, desto grösser ist ihr späteres Risiko für diese Erkrankung. Exakt ermitteln lässt es sich aber nicht, weil die Strahlendosis eine Rolle spielt, das (junge) Alter, das Geschlecht und weitere Faktoren.

Dass die «Jodblockade» das Risiko für Schilddrüsenkrebs reduziert, hat sich laut der Vereinigung «ÄrztInnen für soziale Verantwortung und zur Verhütung eines Atomkrieges» (PSR/IPPNW) nach dem Unfall von Tschernobyl gezeigt.

Über 500 Kilometer entfernt war die Zahl der Fälle von Schilddrüsenkrebs noch merklich erhöht. Die Ursache war mutmasslich radioaktives Jod-131, das damals freigesetzt wurde. Es hat eine Halbwertszeit von etwa acht Tagen. Das heisst: Nach dieser Zeit ist die Hälfte dieses radioaktiven Spurenelements zerfallen. Nach etwa 80 Tagen ist fast das ganze radioaktive Jod verschwunden.

Problematisch ist vor allem die Aufnahme von radioaktivem Jod über Nahrungsmittel, allen voran Milch und Milchprodukte von Weidetieren, die kontaminiertes Gras gefressen haben. Dies sollte drei Monate lang gemieden werden.

(Fortsetzung weiter unten…)

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Wer im Ernstfall besonders auf Jodtabletten angewiesen ist

Da Kinder und Jugendliche viel Milch konsumieren und ihre Schilddrüsen im Wachstum empfindlicher auf radioaktives Jod reagieren, sind sie bei einem Atomunfall besonders schutzbedürftig. Deshalb sollten auch schwangere und stillende Frauen im Notfall die Jodtabletten nehmen – aber erst dann, wenn die Behörden dies empfehlen und genau so, wie sie es raten.

Wann und wie die Jodtabletten eingenommen werden

Auch Pektine, H-Milch und Milchpulver können nützlich sein

Ein Teil der radioaktiven Substanzen kann Studien zufolge mit Hilfe von Apfel- oder Algenpektin eventuell mit dem Urin aus dem Körper geschwemmt werden. Pektine sind lösliche Nahrungsfasern, die zum Beispiel beim Einkochen von Marmelade verwendet werden. In Weissrussland nahmen Zehntausende von Kindern nach dem Unglück von Tschernobyl drei bis vier Wochen lang zweimal am Tag jeweils fünf Gramm einer Apfelpektin-Mischung zusammen mit Wasser ein. Diese «Kur» wurde alle drei bis vier Monate wiederholt, wobei die Kinder auch Lebensmittel erhielten, die nicht radioaktiv belastet waren.

Dadurch verbesserten sich zum Beispiel die gestörten Herzströme bei den Kindern, die besonders viel radioaktives Cäsium aufgenommen hatten.

Wenn immer möglich, sollte man nach einem nuklearen Unfall versuchen, so wenig radioaktive Strahlung wie möglich abzubekommen. Dazu gehört auch, möglichst nicht radioaktiv belastete Nahrungsmittel zu konsumieren. H-Milch oder Milchpulver anstelle von regional produzierter Frischmilch kann eine vorübergehende Ausweichmöglichkeit sein, solange die Belastung mit radioaktivem Jod hoch ist.

Vor einer vorsorglichen Einnahme raten Fachleute unisono ab. Der «optimale Anwendungszeitraum» ist laut der WHO weniger als 24 Stunden vor dem zu erwartenden Kontakt mit radioaktivem Jod bis zu zwei (bis acht) Stunden danach. «Würde tatsächlich ein nuklearer Unfall in der Ukraine passieren, bliebe uns in der Schweiz noch genügend Zeit, um die Tabletten zu nehmen», sagt KSA-Chefarzt Beat Müller. Die Bevölkerung würde dann über Radio und Handy, zum Beispiel über die App «Alertswiss», gewarnt.

Bei einer Einnahme der Jodtabletten später als 24 Stunden nach dem radioaktiven Fallout wäre der Schaden möglicherweise grösser als der Nutzen, weil bereits aufgenommenes, radioaktives Jod dadurch extra lang in der Schilddrüse verbleiben könnte.

Die Jodtabletten, die im Notfall eingenommen werden sollen, enthalten pro Stück 50 Milligramm Jod. Als Dosierung empfehlen die WHO und das Bundesamt für Bevölkerungsschutz: 

  • für Babys unter einem Monat eine Vierteltablette nur einmalig
  • für Kinder im Alter von einem Monat bis drei Jahre: eine halbe Tablette pro Tag
  • für Kinder ab drei Jahren bis 12 Jahre: eine ganze Tablette pro Tag
  • für Kinder ab 12 Jahren und für Erwachsene: zwei Tabletten zugleich pro Tag
  • für Schwangere und Stillende: zwei Tabletten zugleich an maximal zwei Tagen
  • Menschen über 60 Jahre sollten die Jodtabletten laut der WHO nicht wiederholt einnehmen wegen des Risikos unerwünschter Nebenwirkungen.

Die Tabletten dürfen vor der Einnahme zermörsert und in Saft, Milch oder Wasser aufgelöst werden. Die Tabletten bleiben auch über das Verfalldatum hinaus wirksam, weder das Kalium noch das Jod darin zerfalle, meint Beat Müller.

Eine Analyse von mehreren Proben eines österreichischen Herstellers ergab, dass das darin enthaltene Kaliumjodid bei korrekter Lagerung (lichtgeschützt, trocken und unter 25 Grad Celsius) bis zu zehn Jahre lang haltbar war. Ein längerer Zeitraum wurde nicht untersucht.

(Fortsetzung weiter unten…)

Unerwünschte Wirkungen von Jodtabletten

Zu den unerwünschten Wirkungen der Jodtabletten zählen unter anderem Jodallergien. Menschen mit bestimmten Schilddrüsenvorerkrankungen könnten vorübergehende Symptome einer Schilddrüsenunter- oder ‑überfunktion bekommen. Sehr selten kommt es zur Speicheldrüsenentzündung. Bei all jenen Patienten, die gut mit Schilddrüsenmedikamenten und ‑hormonen eingestellt sind, würden die Jodtabletten keine Probleme verursachen, sagt Beat Müller. «Am besten erkundigen sich Betroffene bei ihrer Ärztin oder ihrem Arzt, welche Schilddrüsenerkrankung sie genau haben. Und im Zweifelsfall nimmt man die Jodtabletten besser, als abzuwarten.» Menschen mit bekannten Jodallergien sollten die Tabletten  nur unter kontrollierten Bedingungen und nach Rücksprache mit einem Arzt oder einer Ärztin einnehmen.

Weitere Auswirkungen von radioaktiven Substanzen

Zu glauben, allein mit der Einnahme der Jodtabletten wären Menschen in entfernteren Gebieten einigermassen vor den Folgen eines Atomunfalls geschützt, ist jedoch illusorisch. Nach der Katastrophe in Tschernobyl beispielsweise betrafen höchstens vier von etwa 1’000 Krebserkrankungen infolge radioaktiver Strahlung die Schilddrüse.

Viel häufiger kam es zu Blasenkrebs, Darmkrebs, Lungenkrebs und Nierenkrebs. Denn radioaktive Spurenelemente erhöhen die Krebsrate insgesamt, und sie erhöhen auch die Anzahl der Herz-Kreislauf-Erkrankungen: Bluthochdruck, Herzinfarkte, Schlaganfälle, Herzrhythmusstörungen sowie plötzliche Todesfälle treten nach einem Nuklearunfall gehäuft auf.  

«Leukämien, Fehlbildungen, Stoffwechselkrankheiten, Fortpflanzungsprobleme und weitere Krankheiten häufen sich bei Menschen, die radioaktiver Strahlung ausgesetzt waren», sagt der Basler Arzt Claudio Knüsli, Vorstandsmitglied der Schweizer «ÄrztInnen für soziale Verantwortung und zur Verhütung eines Atomkrieges».

In der Schweiz habe man, wie andernorts auch, nach 1986 einen plötzlichen Anstieg der Säuglingssterblichkeit beobachtet. «Ausserdem hat sich das Verhältnis von Knaben- und Mädchengeburten verändert: Bei uns kamen seit 1986 etwa 3’200 Mädchen weniger zur Welt, als aufgrund der früheren Geburten zu erwarten gewesen wäre», so Knüsli.

Neben Jod-131 wird bei einer nuklearen Katastrophe zum Beispiel auch radioaktives Cäsium freigesetzt, das zu Herzschäden führt, sich im ganzen Körper verteilt und sich in der Bauchspeicheldrüse und in diversen weiteren Organen anreichert – jahrzehntelang. Radioaktives Strontium wird in die Knochen und in wachsende Zähne eingebaut – und verbleibt dort. Erst nach elf Jahren ist die Hälfte davon zerfallen und nicht mehr radioaktiv. Dazu kommen weitere radioaktive Substanzen wie Plutonium und Americium. 

All die radioaktiven Substanzen wirken nicht nur auf Menschen, sondern auch auf Tiere und Pflanzen. Die Belastung kann sich über Generationen hinweg auswirken – auch wenn es im Einzelfall nie möglich sein wird, den ursächlichen Zusammenhang zu beweisen.

«Beim Menschen gilt bisher, dass man ab einer Lebensdosis von 100 Millisievert von einer hohen Dosis spricht. Alles darunter gilt als niedrige Dosis. Doch diese Grenze ist fliessend», gibt Claudio Knüsli zu bedenken. «Wir sehen auch im sogenannten ‹Niedrig-Dosisbereich› mehr Krebserkrankungen, mehr Herzinfarkte und zudem ein verändertes Geschlechterverhältnis bei den Geburten.» Die Jodtabletten würden nach einem atomaren Unglück höchstens den Schilddrüsenkrebs verhindern – aber nicht all die anderen Folgen.

von Dr. med. Martina Frei,

veröffentlicht am 16.03.2022


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