Er ist zwar immer da, aber manchmal behandeln wir unseren Atem ganz schön stiefmütterlich. Liessen wir ihn öfter einfach fliessen, führte er vielleicht nicht nur vom Kopf bis in die Zehenspitzen, sondern auch zu uns selbst.
Wie weit der Atem reicht, wenn man ihn denn lässt, wie sehr er den Menschen erfasst, das sieht man bei den kleinsten am besten. «Bei einem Baby bewegt sich alles mit», sagt die Atemtherapeutin Franziska Pfeuti. «Da atmet der ganze Körper.» Wenn wir grösser werden, bleibt dem Atem oft nur noch wenig Raum. Dabei wünschen sich die meisten so sehr, endlich wieder einmal durchzuatmen, doch verliert sich der Wunsch gerne im durchgetakteten Alltag des Erwachsenenlebens.
Es kann ebendieses Gefühl sein, nicht mehr richtig tief atmen zu können, das jemanden eine Atemtherapeutin aufsuchen lässt. Bei anderen ist es das Bedürfnis, mehr Gelassenheit und Entspannung zu spüren im Leben oder mehr über sich selbst zu erfahren. Zu Franziska Pfeuti und ihren Berufskolleginnen – und einigen wenigen Berufskollegen – kommen aber auch Menschen, die Asthma haben oder chronische Schmerzen, Schlafstörungen oder Panikattacken, Arthritis oder Rückenprobleme.
«Den sogenannten Manager-Atem, der einen nicht mehr bis in den Bauch atmen lässt, stellen wir heute immer öfter auch bei Kindern und Jugendlichen fest.» Die Atemtherapie, seit Anfang 2016 ein eidgenössisch anerkannter Beruf, ist eine Komplementärtherapie: Wer sie ausübt, darf keine Heilversprechen abgeben und ergänzt die Arbeit von Ärzten und Psychotherapeuten.
Zu ihrem Beruf gehöre es zwar auch, Atemtechniken zu vermitteln, etwa vor einer Geburt, sagt Pfeuti. «Unser Hauptanliegen ist es aber, den Menschen zu seinem natürlichen Atem zurückzuführen.» Die Beschäftigung mit dem eigenen Atem schafft im Idealfall nicht nur einen Raum, in dem Gefühle und Stimmungen ihren Platz haben und Ruhe möglich wird, ist die Co-Präsidentin des Atemfachverbandes Schweiz überzeugt. Die Therapie führt auch zu einer besseren Durchblutung der Organe, regt Stoffwechselvorgänge an und gleicht Über- beziehungsweise Unterspannungen der Muskulatur aus.
Zur Therapiesitzung gehört immer auch das Gespräch, das Wissen darum, was den Menschen belastet und beschäftigt, der sie besucht und was er sich von der Therapie erhofft. Atemtherapien finden einzeln oder in der Gruppe statt, es gibt Übungen, zu denen man sich bewegt und andere, bei denen man liegt; je nach Richtung berührt die Therapeutin ihre Klientinnen und Klienten direkt auf der Haut oder über der Kleidung.
In der Schweiz existieren mehrere Richtungen von Atemtherapien: Einige setzen mehrheitlich auf Elemente aus Gymnastik und Tanz und arbeiten viel mit Instrumenten und Bällen, andere sind eher von fernöstlichen Methoden inspiriert, etwa der Arbeit mit Meridianen, und je nach Therapieform spielen auch Erkenntnisse aus der Psychologie mit ein. (Lesen Sie unten weiter...)
Und wie tragen wir das, was wir in der Therapie gelernt haben, in unser alltägliches Leben? «Die wenigsten sind bereit, sich jeden Tag ausschliesslich für ihren Atem eine halbe Stunde Zeit zu nehmen», sagt Pfeuti. Das sei aber auch nicht unbedingt nötig. Schon wer es sich zur Gewohnheit mache, täglich mehrere Male ein paar Atemzüge bewusst wahrzunehmen, erreiche damit längerfristig viel und spüre mit der Zeit, wie er etwa auf hektische Situationen anders reagiere. «Man kann sich schliesslich nicht gleichzeitig aufs Atmen und Aufregen konzentrieren.»