Nie ist es reizvoller, den Tiefkühler endlich mal abzutauen, als wenn die Steuererklärung ansteht. Warum nur schieben wir wichtige Aufgaben so oft vor uns her? Und vor allem: Was lässt sich dagegen tun?
Ich kann nur unter Druck gut arbeiten. Morgen mache ich dafür doppelt so viel. Zum Schreiben muss man in der richtigen Stimmung sein. Wenn ich erst einmal an der Arbeit sitze, geht es ganz schnell. Gehören diese Sätze zu deinem Repertoire, mit dem du dein Gewissen beruhigst? Du bist nicht allein. Aufschieben ist menschlich.
Unter Prokrastination (vom lateinischen «procrastinare», was so viel wie «Aufschieben», «auf morgen verlegen» bedeutet), versteht man in der Psychologie das chronische oder wiederholte Aufschieben von Tätigkeiten. Persönlich wichtige Aufgaben werden hinausgezögert trotz vorhandener zeitlicher Kapazität, auch dann, wenn negative Konsequenzen zu befürchten sind. Prokrastinierende putzen lieber noch schnell die Fenster, bevor sie sich an die Prüfungsvorbereitung oder längst überfällige Steuererklärung machen.
Die Universität Münster hat in einer Online-Umfrage 10'000 deutsche Studierende befragt. 990 Personen haben an der Studie teilgenommen. Das Ergebnis: Rund 33% der Befragten leidet an pathologischer Prokrastination. Davon spricht man, wenn das Aufschieben ernsthafte Auswirkungen auf das Leben der betroffenen Personen hat und sie darunter leiden. Problematisch wird das Prokrastinieren also, wenn die Folgen überhandnehmen und es z.B. zu Problemen am Arbeitsplatz aufgrund unerledigter Aufgaben kommt oder sich geliebte Menschen wegen vermeintlicher Unzuverlässigkeit abwenden.
Das Aufschieben von Aufgaben hat meist wenig mit Faulheit zu tun. Prokrastination ist der aktive Versuch, unangenehme Gefühle im Zusammenhang mit einer Aufgabe zu vermeiden. Betroffene leiden oft unter ihrem Verhalten, da sie vermiedene Tätigkeiten eigentlich ausführen wollen oder müssten, diese aber aufschieben. Anders bei der Faulheit: Die Person möchte gar nicht arbeiten oder aktiv werden, es fehlt sowohl an Absicht als auch an Motivation etwas zu tun.
Das Aufschieben von Aufgaben kann viele Gründe haben und sollte individuell betrachtet werden. Häufig lassen sich die Ursachen von Prokrastination in die Kindheit zurückverfolgen. Dabei können Versagensängste oder Schwierigkeiten, Emotionen und Impulse zu regulieren, eine wichtige Rolle spielen. Auch genetische Veranlagungen können das Aufschieben begünstigen. So sind manche Menschen beispielsweise von Natur aus schneller gelangweilt und lassen sich leichter ablenken.
Faktoren, die das Aufschieben fördern können:
«Heute fange ich wirklich an!» von Anna Höcker, Margarita Engberding und Fred Rist
Das Buch unterstützt Leserinnen und Leser dabei, die Mechanismen hinter Prokrastination und Aufschiebeverhalten zu erkennen. Es beleuchtet die Entstehungsfaktoren, erklärt, warum das Durchbrechen dieses Musters so herausfordernd ist, und zeigt Strategien auf, um es erfolgreich zu bewältigen.
Im Rahmen der internationalen Klassifikation psychischer Diagnosen gilt Prokrastination nicht als Krankheit. «Übermässiges Aufschieben von Aufgaben kann behandlungsbedürftig werden, wenn chronische Alltagsschwierigkeiten auftreten und diese bei Betroffenen einen Leidensdruck verursachen», sagt Dr. Laura Sophia Kivelitz, eidg. anerkannte Psychotherapeutin FSP und leitende Psychotherapeutin bei WePractice. Aufschieben und übermässige Ablenkung verhindern, dass Betroffene ihre Ziele erreichen und ihre Potenziale ausschöpfen. Dies führt häufig zu Frustration bis hin zu depressiven Verstimmungen und kann die Entstehung weiterer psychischer und körperlicher Probleme begünstigen. «Wenn betroffene Personen beispielsweise versuchen, sich durch vermehrtes Computerspielen oder Alkoholkonsum von unangenehmen, aber wichtigen Aufgaben abzulenken, kann dies langfristig zu einer Suchtproblematik führen», führt Dr. Laura Sophia Kivelitz aus.
Prokrastination kann auch ein Begleitsymptom einer psychischen Erkrankung sein. Daher ist bei ausgeprägter Einschränkung und Belastung ein Erstgespräch bei einer psychologischen oder ärztlichen Fachperson hilfreich.
«Im Rahmen einer Psychotherapie sollte zunächst diagnostisch abgeklärt werden, ob hinter dem Prokrastinieren gegebenenfalls eine psychische Erkrankung steckt», erklärt Dr. Laura Sophia Kivelitz. «Zum Beispiel eine Depression oder eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Wenn das Prokrastinieren also ein Symptom einer anderen Problematik ist, sollte zunächst die zugrunde liegende Thematik priorisiert behandelt werden», betont sie.
Es ist in jedem Fall sinnvoll, ein individuelles Erklärungsmodell für das Prokrastinieren zu entwickeln, um die persönlichen (Hinter)gründe besser zu verstehen. Dies ermöglicht die Erarbeitung und Umsetzung von Strategien zur Verhaltensänderung, die auf die betroffene Person abgestimmt sind.
Mit diesem Tipp kannst du besser Prioritäten setzen. Nadine Kügerl, Personal Health Coach bei der SalutaCoach AG, zeigt dir, wie.
Der Tatendrang, die sogenannte Präkrastination. Es beschreibt den Drang, Aufgaben sofort zu erledigen und sofort zu handeln. Das klingt zunächst gut, führt aber bei betroffenen Personen oft zu Stress oder Überforderung. Es kann sogar das Risiko für die Entstehung eines Burn-Outs erhöhen.
Prokrastination ist keine eigenständige psychische Störung, sondern ein Verhaltensmuster, das häufig mit Problemen bei der Selbstregulation einhergeht. Sie kann jedoch auch ein Symptom anderer Störungen wie Depressionen, Angststörungen oder ADHS sein. Sie wird dann problematisch, wenn sie chronisch ist, Leidensdruck verursacht oder den Alltag erheblich beeinträchtigt. Weitere Informationen siehe Ist Prokrastination eine psychische Krankheit?.
Wenn du Aufgaben trotz Zeitressourcen immer wieder aufschiebst, dich dabei unwohl fühlst und Stress erlebst, spricht man eher von Prokrastination. Reines Trödeln ist entspannter und ohne grossen inneren Konflikt.
Ja, manchmal nutzen Menschen Aufschieben als kreative Reifezeit: Ideen können im Hintergrund «reifen». Chronisches, wiederholtes Aufschieben kann jedoch zur Belastung werden, sodass die negativen Folgen überwiegen.
Absolut. Wer sich daran gewöhnt, unangenehme Dinge regelmäßig aufzuschieben, trainiert sein Gehirn darauf. Mit bewussten Ritualen und klaren Routinen lässt sich dieser Kreislauf aber unterbrechen.
Für manche ja: Abgabetermine oder Deadlines können antreiben. Langfristig ist dieser Druck aber oft stressig und erschöpft. Besser ist es, innere Motivation und Selbstorganisation zu stärken.
Ja. Manche Menschen sind im Job sehr diszipliniert, schieben aber private Themen wie Arzttermine oder Behördengänge vor sich her – oder umgekehrt. Die Ursachen ähneln sich, äussern sich aber in unterschiedlichen Lebensbereichen.
Nicht von heute auf morgen. Aber mit Training, Selbstreflexion und klaren Strategien lässt sich das Muster Schritt für Schritt verändern. Entscheidend ist, regelmässig kleine Erfolgserlebnisse aufzubauen.