Gedanken und Gefühle können sich auf den Körper auswirken und das Immunsystem – unsere Selbstheilungskräfte – beeinflussen: im Guten wie im Schlechten.
«Schon der Begriff ‹starkes Immunsystem› ist eigentlich falsch. Was wir uns wünschen, ist vor allem ein ausgeglichenes Immunsystem», schreibt Philipp Dettmer in seinem Bestseller «Immun». Denn: «Das Immunsystem ist eine wunderschöne Sinfonie, die nur dann harmonisch ist, wenn sie einer strengen Choreografie folgt.»
Ausgewogene Ernährung mit allen nötigen Mikronährstoffen, Bewegung und seelisches Gleichgewicht sind dafür wichtig – nicht aber teure Mittel, die als «immunstärkend» angepriesen werden. «Wenn du nach Wegen suchst, deinem Immunsystem etwas Gutes zu tun, kannst du sofort damit beginnen, indem du möglichst viele Stressfaktoren aus deinem Leben verbannst», rät Dettmer. Das ist oft leichter gesagt als getan.
Wichtig sei, sich oder andere zu motivieren, aber keine Vorwürfe zu machen, sagt Claudia Witt, die Direktorin des Instituts für komplementäre und integrative Medizin am Universitätsspital Zürich. «Selbstheilung ist zudem bei vielen Krankheiten begrenzt möglich. Denn ererbte und biologische Faktoren, Umwelteinflüsse sowie soziale Umstände beeinflussen unsere Gesundheit. Da trifft niemanden eine Schuld, wenn keine Besserung oder Heilung eintritt.»
Das Immunsystem beeinflusst die Gefühlswelt. Bei einer akuten Infektion etwa senden die Immunzellen Entzündungsbotenstoffe aus. Sie bewirken, dass im Gehirn die «Solltemperatur» verstellt wird. Dann «heizt» der Körper hoch und es kommt zu Fieber. Oft rufen die Entzündungsbotenstoffe auch eine traurige Stimmung hervor, der oder die Kranke verspürt das Bedürfnis, sich zurückzuziehen, sich weniger zu bewegen und mehr zu schlafen. Der Grund: Die Entzündungsbotenstoffe wirken auch im Gehirn. Chronische Entzündungen gehen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für psychische Erkrankungen einher, sie begünstigen einen Herzinfarkt ebenso wie Diabetes oder Krebs.
Akuter Stress verstärkt die Immunabwehr kurzzeitig. Chronischer, negativ empfundener Stress hingegen führt zu mehr Entzündungsvorgängen im Körper und zu erhöhten Stresshormonpegeln, etwa des Stresshormons Cortisol. Cortisol wirkt auf die weissen Blutkörperchen, die für die Immunabwehr wichtig sind. Das Stresshormon bremst die Immunabwehr, der Körper kann sich dann schlechter gegen Krankheitserreger verteidigen. Es verzögert überdies die Wundheilung, fördert den Appetit und damit auch das Übergewicht.
Bei chronischem Stress verändern bestimmte weisse Blutkörperchen, die T-Helfer-Zellen, ihr Verhalten. Sie sind für viele Abläufe wichtig. «Unter Stress kann es passieren, dass T-Helfer-Zellen die falschen Entscheidungen treffen, wodurch unter Umständen die Immunantwort aus dem Gleichgewicht gerät», schreibt Dettmer in seinem Buch.
«Bei Stress nimmt man seinen Körper oft nicht mehr so gut wahr. Die Atmung wird flacher, die Muskulatur angespannter, aber es fällt einem nicht auf», sagt Claudia Witt. Ihr Tipp: «Bei Stress zwischendurch ein paar Mal tief durchatmen und möglichst täglich eine Entspannungsübung machen.»
Ärger, Angst oder Sorgen können das Immunsystem aus dem Gleichgewicht bringen und Heilungsprozesse stören. Menschen mit Depressionen oder Angststörungen haben zum Beispiel häufiger erhöhte Spiegel an bestimmten Entzündungsbotenstoffen als Menschen ohne solche Erkrankungen. Damit einher geht auch ein erhöhtes Risiko für einen Herzinfarkt. Ein Team von Psychologinnen und Psychologen hat 35 Jahre lang untersucht, was vor Erkältungen schützt und was sie befördert: Chronischer Stress und Rauchen gehörten zu den negativen Faktoren. Rauchen kann beispielsweise Autoimmunkrankheiten begünstigen.
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Wie sich eine positive Stimmung auf das Immunsystem auswirkt, haben Forschende zum Beispiel mit Hilfe von Schnupfen- und Grippeviren getestet. Menschen, die sich glücklich, lebendig und innerlich ruhig fühlten, bekamen von den absichtlich verabreichten Viren seltener eine Erkältung als Personen, die ängstlich, niedergeschlagen oder anderen gegenüber feindselig gestimmt waren. Sogar bei einer Infektion mit HIV kann eine insgesamt positive Gestimmtheit – allen Widrigkeiten zum Trotz – mit einem besseren Krankheitsverlauf einhergehen.
Achtsamkeitsübungen, Tai Chi, Qi Gong, Yoga, Meditation oder Verhaltenstherapie können antidepressiv wirken, Ängste reduzieren – und auch die Immunabwehr verbessern. Zum Beispiel war die Immunantwort auf die Impfung gegen Gürtelrose in einem Experiment bei Senioren ausgeprägter, wenn sie zuvor 16 Wochen lang Tai Chi praktiziert hatten. Auch regelmässig und genügend schlafen einerseits und körperliche Aktivität andererseits wirken sich günstig auf die Psyche und das Immunsystem aus. Denn beim Sport wird ein Cocktail an «Glücksbotenstoffen» ausgeschüttet und Stresshormone im Körper werden abgebaut. Das verbessert die Stimmung, macht relaxter und kann Depressionen vorbeugen.
«Lachen und positive soziale Kontakte sind Kraftquellen», sagt Claudia Witt. Wer sich in seinem Umfeld gut aufgehoben und getragen fühlt, hält – im Fall einer Ansteckung – beispielsweise Erkältungsviren eher in Schach als Menschen, die unter Einsamkeit leiden und sozial isoliert sind. Das haben Experimente gezeigt. Konflikte mit anderen, etwa mit dem Partner oder der Partnerin, wirken sich ebenfalls nachteilig aufs Immunsystem aus.
Was die Immunabwehr betrifft, so ist die soziale Unterstützung doppelt hilfreich, denn sie kann zusätzlich ungünstige Einflüsse durch Stress oder soziale Benachteiligung abfedern. Bereits das Immunsystem von Kindern, die mütterliche und väterliche Wärme spüren, profitiert – und davon zehren sie noch Jahrzehnte später als Erwachsene.
Wenn jemand erwartet, dass ihm etwas helfen wird, dann wird das mit grösserer Wahrscheinlichkeit auch so eintreten. «Der Glaube kann Berge versetzen», heisst eine alte Redewendung. Placebos sind dafür ein gutes Beispiel: Bis zu neun von zehn Versuchsteilnehmerinnen und ‑teilnehmern profitierten davon. In Experimenten wirkten Placebos unter anderem antidepressiv, antiallergisch, schmerzlindernd, sie verkürzten Erkältungen, halfen bei Reizdarm, Hitzewallungen nach der Menopause, sie konnten Parkinson-Symptome bessern und auch das Immunsystem beeinflussen. Sogar wenn Kranke wissen, dass sie ein Placebo bekommen, kann es sehr wirksam sein.
In einem Experiment nahmen Patienten ihr Medikament nach einer Nierentransplantation plus ein Placebo. Mit der Zeit «verband» ihr Körper die Wirkung des Medikaments mit dem Placebo. Das Medikament bremste ihre Immunreaktion – und das Placebo tat dann dasselbe.
Jeder Mensch muss in seinem Leben Schicksalsschläge verkraften. Wem es gelingt, daran nicht zu verzweifeln, sondern einen Sinn darin zu erkennen, trotz allem noch einen «Silberstreifen am Horizont» zu sehen, das Leben danach noch stärker wertzuschätzen oder eine andere Bedeutung für sich daraus zu ziehen, der kann damit indirekt auch seine Immunabwehr stärken. Das zeigte sich zum Beispiel bei HIV-infizierten Männern, die einen nahestehenden AIDS-kranken Menschen verloren haben, und bei Frauen, deren Mutter an Brustkrebs verstorben ist.