Durch die Hektik des Alltags fehlt uns oft der geschärfte Blick für unsere Umwelt. «Bewusstes Spazieren» oder Flanieren kann hier helfen.
Täglich hasten wir durch Landschaften hindurch. Wir lassen uns vom GPS im Auto an ein Ziel navigieren, überfliegen auf Google Earth virtuell Hausdächer und sogar Kontinente. Und doch fehlen uns oft der geschärfte Blick für Details und auch die Musse, um unsere Umwelt bewusst wahrzunehmen.
Die hohen Geschwindigkeiten im Flugzeug, in der Bahn und im Auto führen zu einer anderen Wahrnehmung unserer Welt, zu einem abstrakteren Landschaftsbild.
Dies erkannte auch der Schweizer Soziologe und Planungstheoretiker Lucius Burckhardt (1925–2003) und entwickelte bereits in den Achtzigerjahren des letzten Jahrtausend aus Elementen der Soziologie und des Urbanismus die Spaziergangswissenschaft. Diese unterrichtete er als Hochschullehrer an der Universität Kassel. Nach Burckhardts Tod wurde die Idee in verschiedenen Seminaren an Universitäten als Teilgebiet von Vorlesungen aufgegriffen.
Das Konzept der Spaziergangswissenschaft beruht auf der konzentrierten Wahrnehmung – von Stimmungen, von Veränderungen im Stadtbild, von Kuriositäten am Wegesrand, von Sehenswertem abseits der gängigen Sehenswürdigkeiten. Es gilt, durch aufmerksames Schauen die Umwelt wieder in die Köpfe zurückzuholen.
Die Promenadologie will wegführen von der allgemeinen Blindheit für scheinbar Uninteressantes und vorprogrammierte Sinnbilder hinterfragen: Denn nicht nur Palmen und Sandstrand bedeuten Idylle, nicht jedes Industrieareal ist trostlos, nicht an jeder Endstation geht es nicht mehr weiter.
Das bewusste Spazieren, es ist auch ein Aufruf zur Langsamkeit. Zum Flanieren und Schlendern. Zum Müssiggang. So wie es die Flaneure Anfang des 19. Jahrhunderts auf den Boulevards von Paris, in den Pärken von Prag, auf den Promenaden von Berlin vormachten.
Vom französischen Verb «flaner» abgeleitet, ist der Flaneur ein Mensch, der müssig umherschlendert, ohne Ziel und ohne Eile. Einer, der beim Spazieren schaut und geniesst. Das Flanieren wurde mit dem Aufkommen des Bürgertums geboren. Der vornehmen Bourgeoisie gefiel es, sich bei der scheinbar luxuriösen Zeitverschwendung zu zeigen und sich schönen Gedanken hinzugeben. Ruhiges, beobachtendes Gehen an der frischen Luft gilt zudem als gesund, entspannend und ausgleichend. Dem Alltag kann man so «entgehen», im wahrsten Sinne des Wortes.