Bäume sind intelligent, kommunizieren miteinander und haben Empfindungen. Das und die Schönheit des Waldes erfahre ich während einer Waldbaden-Exkursion mit der Ökologin Diana Soldo.
Gerade noch habe ich an diesem sonnigen Frühlingstag auf die nahe Stadt geblickt, wenige Sekunden später stapfe ich im Wald beim Resiweiher am Rande Zürichs durch das Laub des vergangenen Jahres. Knöcheltief sinke ich ein, es riecht nach Pilzen, Feuchtigkeit, Moder und Verfall. Rascheln begleitet die Dreiergruppe. «Waldbaden können wir überall direkt vor der Haustüre, sobald wir die Trampelpfade verlassen», sagt Diana Soldo. Wir machen uns auf, den Wald mit offenen Sinnen zu entdecken.
Schon bald erreichen wir abseits von Wegen eine Lichtung im Buchenwald, der auch als Gemälde aus der Romantik durchgehen würde. Die älteren, grossen Bäume bilden in Kombination mit jüngeren ein lichtes Dach aus Blättern und Ästen. «Buchen leben in Gemeinschaften, hier sehen wir verschiedene Generationen beisammen», erklärt die Exkursionsleiterin.
Majestätisch in die Höhe ragende Stämme, eine glatte Rinde. Ebenmässig und schön. Ein ästhetischer Baum! In der Nähe des Resiweihers werden die Buchen mit über 100 Jahren älter als an anderen Standorten, die forstwirtschaftlich intensiver genutzt werden. Ein Glücksfall.
Wir sind drin – im Wald. Und öffnen die Sinne. Der Wind streicht durch die Baumkronen, die grünen Buchenblätter wirbeln in der Luft. Die Sonnenstrahlen lassen das Laub in allen Schattierungen leuchten – «Fifty Shades of Green». Ohne dass wir es merken, «walden» wir bereits – ein Begriff, den Soldo für ihre Exkursionen verwendet, bei dem sie das Wissen über Wald mit der aus Japan stammenden Tradition des Waldbadens verbindet.
Waldbaden bedeutet «in die Atmosphäre des Waldes eintauchen». Die Haltung dabei: Gestern und morgen sind unwichtig, was zählt ist das Hier und Jetzt. Sich mit Neugier und sinnlichem Interesse dem Wald öffnen. (Fortsetzung weiter unten…)
«Probiert mal!» Diana steht vor einer Weissbuche und reicht ein Blatt zum Kosten. Das Blatt hat einen diskreten, zarten Geschmack und würde sich bestens für einen Salat eignen. Insgesamt gibt der Wald Dutzende geniessbare Wildkräuter her. Darunter Spitzwegerich, Giersch, Brennnesseln und Teufelskralle. Aus den Waldkräutern lassen sich schmackhafte Pestosaucen herstellen.
Ein Harzfleck zieht die Aufmerksamkeit auf sich: Er befindet sich an der gefurchten Rinde einer Fichte. Wir stecken einen Krümel in den Mund. Er hat die Konsistenz von Kaugummi schmeckt leicht nach Minze und wirkt antibakteriell. Noch am nächsten Tag klebt ein Teil in den Zähnen.
«Bereits nach 10 Minuten Aufenthalt im Wald reduzieren sich die Stresshormone Adrenalin und Cortisol nachweislich», sagt Diana, die sich als Vermittlerin, nicht als Therapeutin sieht. Ausserdem stärkt er das Immunsystem, wirkt unter anderem gegen Depressionen, sorgt für seelisches und geistiges Wohlbefinden. «Zwei bis vier Stunden Waldbaden pro Woche sind optimal», sagt Diana. (Fortsetzung weiter unten…)
Der Tastsinn ist angesagt. Die Stämme der Buchen sind glatt und ebenmässig. Ganz im Unterschied zu Fichten, deren mehrschichtige Rinde mit Furchen durchsetzt ist. «Wühlt mal so richtig im Laub», schlägt Diana vor und fährt mit ihren Fingern in die feuchte Erde. Ein Wurm taucht auf, ein Insekt ist dermassen vertieft ins Eierlegen, dass es die Gruppe nicht wahrnimmt.
«Wir sollten mehr raus und in den Wald, er ist unser ursprüngliches Zuhause», sagt die Ökologin. Obwohl die urbane Umgebung in der Entstehungsgeschichte des Menschen neu und ungewohnt ist, stellt Diana eine Entfremdung von Mensch und Wald fest. Grün entspanne und sei heilsam, das sei evolutionär bedingt und belegt. Dazu kommt: «Sinnliche Erfahrungen helfen uns, eine Beziehung zur Natur aufzubauen und sie zu schützen». Ein Anliegen, das Diana Soldo wichtig ist.
Über Wurzeln und die Luft tauschen Bäume Botschaften aus. Sie warnen einander etwa vor Schädlingen und teilen Erfahrungen. Rund 9000 Stoffe sind bisher bekannt. Die Forschung darüber steckt noch in den Kinderschuhen. Pflanzen – so erfahren wir – haben auch Empfindungen, wie die Mimose vor Augen führt. Bei der kleinsten Berührung zieht sie sich zusammen.
Pflanzen nehmen Schall, Düfte, Luft und Schwingungen wahr – und «treffen intelligentere Entscheide als Menschen». Etwa indem sie steuern, wann ihre Blätter spriessen. Oder zur Sonne hin wachsen. Sie entscheiden, wann das Laub abfällt. Zudem sind Bäume lernfähig. Haben sie eine Trockenperiode überstanden, sind sie bei der nächsten vorbereitet.
Wie andere Lebewesen haben auch sie einen Lebenszyklus mit verschiedenen Phasen: Zuerst stecken sie alle Energie ins Wachstum. Erreichen die Bäume ein gewisses Alter, geht bei vielen die Produktion von Samen zurück. «Sie haben quasi Menopause», sagt die Ökologin und lacht. (Fortsetzung weiter unten…)
Lustvoll streifen wir durch den Wald. Ihn in all seinen Facetten kennenzulernen, ist ihr Rezept. Bäume umarmen hingegen bietet sie nicht an. «Wer das praktizieren will, darf das natürlich». Und wer sich zu einem Baum hingezogen fühle, sorge sich um ihn, das sei schon mal positiv.
Das gilt auch fürs Sprechen mit den Pflanzen. Da Pflanzen sich in wissenschaftlichen Experimenten unterschiedlich zu Rock- oder klassischer Musik entwickeln, könne es durchaus möglich sein, dass Pflanzen auch Menschen unterscheiden und erkennen können. Und Menschen auch unterschiedlich auf Pflanzen wirkten. «Grundsätzlich ist der Wald ein Mysterium, wir kennen und verstehen nur wenig davon, über vieles können wir lediglich staunen.»
Next Step: Hören. Wir schliessen die Augen und lauschen. Hat da jemand die Stereoanlage aufgedreht? Vogelzwitschern und Blätterrauschen stehen plötzlich im Vordergrund, es knackt und knistert überall. Insekten summen. Die Geräusche des Waldes sind wunderbar entspannend.
Zeit, die Schuhe auszuziehen. Die Erde ist feucht vom tagelangen Regen, der endlich zu Ende gegangen ist. Sachte stelle ich die Sohle aufs nasse Laub. Es kühlt die Füsse angenehm. Ich erkunde die Unebenheiten des Blätterbodens sanft. «Achtung auf die Stechpalmen», ruft Diana vergnügt. Und ist bereits dabei, ein neues Geheimnis für die «Waldsafari-Gruppe» zu lüften.
Ein tellergrosser Pilzfruchtkörper, der rotrandige Baumschwamm, fasziniert. Diese Pilzart wächst auf Totholz. «Wir dachten lange, dass die Bäume die grössten Lebewesen im Wald sind, aber es sind die Pilze», sagt Diana. Die Gruppe erfährt: Der grösste Pilz der Schweiz breitet sich im Schweizer Nationalpark über die Fläche von etwa 50 Fussballfeldern aus. Pilze können bis zu 2500 Jahre alt werden.
«Am Schluss einer Exkursion wollen sich die Leute oft auf den Boden legen und einfach in die Baumkronen schauen», erzählt Diana Soldo. Allein der Blick auf einen Baum wirke heilsam, zitiert die Umweltwissenschaftlerin aus einer Studie. Ich befolge ihren Rat. Jacke ausbreiten, mich hinlegen und nach der dreistündigen Exkursion nochmals die zahlreichen Nuancen von Grün geniessen. Selten war ich so entspannt.
Fotografin: Désirée Good