Anette K. ist mit Fasten ihr Übergewicht losgeworden. Das hat ihr ganzes Leben verändert. Auch die Medikamente gegen Bluthochdruck und Diabetes braucht sie nicht mehr.
Anette K: Am 11. Mai 2017 brach meine Welt zusammen. An diesem Tag eröffnete mir mein Mann, dass er so nicht weiter mit mir leben könne. «So» hiess für ihn: Allein mit unseren beiden Hunden spazieren gehen. Allein in die Badi. Allein in die Ferien … Ich hatte mich schon lange aus all dem ausgeklinkt. Der Grund: 137,9 Kilo. Es war nicht so, dass ich nicht hätte mitkommen wollen, aber mein Körpergewicht liess vieles nicht zu. Zum Beispiel Bergwandern – ich japste sofort nach Luft. Zudem schmerzten meine Knie und meine Füsse schon nach kurzen Strecken. Mit jedem Jahr wurden die körperlichen Einschränkungen stärker. Da läuft man freiwillig nicht mehr. Das Übergewicht hatte weitere Folgen: Etwa ab meinem 40. Lebensjahr schluckte ich täglich zwei Tabletten gegen hohen Blutdruck. Und ab 45 kamen noch je eine gegen Diabetes und gegen Gicht hinzu.
Martina Frei, Dr. med., arbeitet als Hausärztin in Zürich und im Aargau: Die ganze Familie machte sich Sorgen um meine Schwester. Und als Ärztin wusste ich: Wenn sie nicht abnimmt, wird sie mit hoher Wahrscheinlichkeit ins Messer laufen. Der Bluthochdruck, die Stoffwechselprobleme und die Gelenkbeschwerden waren nur Vorboten. Herzinfarkt, Schlaganfall, bestimmte Krebsarten – all das und noch mehr wird durch Übergewicht befördert. Aber alles Zureden, alle Vorschläge nützten nichts.
Anette K: Ich war schon als Kind pummelig. Ein Faktor, der dazu beitrug, war die gute Küche beim Grosi, das ganz nah wohnte. Der andere waren die Glücksmomente, die ich mir verschaffte, wenn ich zum Beispiel Ärger hatte: Ein vom Taschengeld gekauftes Dessert wirkte wie ein Trostpflaster. Hinzu kommt, dass ich – verglichen mit anderen – nur wenig Nahrung brauche. Andere können Essen geradezu in sich hineinschaufeln – ich werde dick.
Um abzunehmen, hatte ich FdH versucht, war bei den Weight Watchers oder ass wochenlang nur zu Abend. Das Resultat: Gewicht runter, Gewicht wieder rauf – vor allem während meiner beiden Schwangerschaften. Bei etwa 100 Kilo Körpergewicht war kein Land mehr in Sicht. Ab diesem Zeitpunkt nahm ich es als Schicksal hin, dass ich dick bin – mit allen Konsequenzen. Schlugen meine Kollegen zum Beispiel vor, in ein gemütliches Café zu gehen, suchte ich Ausflüchte. Nicht, weil ich nicht dorthin gewollt hätte. Der Grund waren die Plastikstühle. Ich blieb darin stecken – total peinlich. (Fortsetzung weiter unten...)
Nur keine Aufmerksamkeit erregen, war mein Lebensmotto. Drängelte sich zum Beispiel jemand in einer Warteschlange vor mich, schwieg ich. Ich wollte nicht riskieren, dass der andere eine Bemerkung zu meinem Aussehen macht, wenn ich mich beschwere. Der Alltag als dicke Frau ist wie Spiessrutenlaufen. Oft hörte ich fremde Leute hinter mir abfällig reden. Noch häufiger waren es ihre Blicke, die Bände sprachen: Faul, asozial, undiszipliniert – das sind die unausgesprochenen Vorwürfe. Um möglichst nicht aufzufallen, trug ich nur gedeckte Farben, am liebsten Schwarz. Nie wäre ich in ein Flugzeug gestiegen, denn die Blamage, den Sicherheitsgurt nicht über dem Bauch schliessen zu können, wollte ich mir ersparen.
Solange die Kinder klein waren, zog mein Mann mit ihnen los, ohne mich. Aber irgendwann waren sie gross. Das war der Moment, als er mir sagte, er könne so nicht mehr. Mir zog es den Boden unter den Füssen weg. Bis zu dem Moment dachte ich, dass wir eine wunderbare Ehe haben. Tagelang weinte ich – und brachte vor lauter Kummer und Panik keinen Bissen hinunter, zwei Wochen lang. Die Kilos purzelten.
Nun packte mich der Ehrgeiz. Ich probierte das Intervallfasten: Einen Tag essen, den nächsten fasten. Dann testete ich, ob ich auch zwei Tage fasten konnte. Es ging. Eines Morgens im Juni 2017 fühlte ich mich sehr schlecht. Ich hatte Mühe mit dem Atmen und dachte, ich werde jeden Moment bewusstlos. Bei der Hausärztin stellte sich heraus, dass Blutdruck und Puls viel zu tief waren – eine Überdosierung: Ich hatte weiter die Medikamente genommen, aber mein Körper brauchte sie nicht mehr. Bluthochdruck, Diabetes, erhöhte Harnsäurewerte, Gelenkschmerzen – alles war weg. Derart angespornt, fastete ich weiter.
Martina Frei: Als ich von Anettes radikaler Umkehr hörte, läuteten bei mir die Alarmglocken. Sie solle sich unbedingt ärztlich begleiten lassen und schauen, dass sie genügend Mikronährstoffe bekomme, riet ich.
Anette K: Also googelte ich, welche Substanzen für den Körper unabdingbar sind. Seither nehme ich täglich ein Multivitaminpräparat, Mineralien, Omega-3-Fettsäuren, wichtige Aminosäuren und anderes mehr. Meine Hausärztin untersuchte mich in dieser Zeit engmaschig und gründlich. Am Heiligabend 2017 wog ich 60,9 Kilo und ass mit der Familie zu Abend, die erste grosse Mahlzeit seit langem. Allmählich fand ich die Strategie, die mir am besten entspricht. Denn ich bin nicht der Typ, der nach einem halben Teller satt ist. Und ich finde auch, dass zum Beispiel ein Sahnepudding besser schmeckt als einer mit Magermilch. (Fortsetzung weiter unten...)
So faste ich nun seit über einem Jahr, oft von Montag bis Freitag am Nachmittag, manchmal auch nur drei oder vier Tage pro Woche, je nachdem, was die Körperwaage anzeigt. An den anderen Tagen esse ich, was und wie viel ich mag – ohne schlechtes Gewissen. Selbst wenn es mal eine ganze Tafel Schoggi ist. Wobei sich mittlerweile mein Geschmack verändert hat: Heute mag ich Gemüse viel lieber als früher. Mit dem Intervallfasten habe ich nicht nur Energie ohne Ende, ich halte damit auch mein Gewicht von 62 Kilo und es geht mir körperlich sehr gut. Verspüre ich beim Fasten Hunger, koche oder backe ich häufig Rezepte nach, aber ich schmecke nichts davon ab. Das übernimmt mein Mann.
Sogar die Freude an der Bewegung habe ich entdeckt, etwas völlig Neues für mich. Anfangs zwang ich mich mit Hilfe eines Fitbits zum Gehen. Jetzt bin ich es, die nach einer mehrstündigen Bergtour noch eine Etappe dranhängen will – und mein Mann stöhnt, weil er findet, er sei schon genug gelaufen.
Martina Frei: Die ganze Familie ist unglaublich stolz auf Anette, dass sie das geschafft hat – und weiter schafft. Es braucht enorme Disziplin. Essen kann wie eine Sucht sein, der man, im Gegensatz zu Alkohol oder Drogen, nicht ausweichen kann. Denn essen muss der Mensch. Anettes Strategie bei Hunger ist sicher nicht für alle geeignet, aber Hauptsache, es funktioniert bei ihr. Wasser trinken, Zähne putzen, Kaugummi kauen, spazieren gehen, ablenken – das wird sonst oft empfohlen.
Anette K: Ich war früher nicht unglücklich, weil ich nicht wusste, worauf ich wegen des Übergewichts verzichte – was man nicht kennt, vermisst man nicht. Jetzt weiss ich, wie das Leben auch sein kann: Wir wandern im Gebirge, fahren in die Ferien, gehen Schwimmen. Mein Mann ist geblieben, die Pfunde sind gegangen. Das Abnehmen hat mein ganzes Leben verändert. Und mein Körper hat sich damit selbst geheilt.